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Das größte Geheimnis der Sowjetischen Schachschule

Das größte Geheimnis der Sowjetischen Schachschule

Gserper
| 218 | Strategie

Die berühmte Sowjetische Schachschule hat Hunderte Großmeister und Dutzende Weltmeister hervorgebracht. Tausende Schachtrainer unterrichteten ihre Schüler nach der sogenannten "russischen Trainingsmethode".

Aber wer kann wirklich beschreiben, was genau die Sowjetische Schachschule war oder ist?

Wikipedia versucht es so: "Schachexperten in der UdSSR beschrieben die sowjetische Schachschule als einen rasanten, gewagten Spielstil, der am besten von der jungen Generation der Nachkriegsspieler verkörpert wird."  

Wenn das stimmen würde, dann kann der verrückte Angreifer Tigran Petrosian aber nicht der Sowjetischen Schachschule entsprungen sein.

Im selben (englischsprachigen) Wikipedia-Artikel steht auch:

"Der Hauptbeitrag der Sowjetischen Schachschule war nicht der Stil der Spieler, sondern der Schwerpunkt auf rigorosem Training und dem Studium des Spiels. Schach wurde also als Sport und nicht als Kunst oder Wissenschaft betrachtet."

Jetzt macht es mehr Sinn und die meisten Schachspieler stimmen dieser Definition im Allgemeinen zu.

Das sagt Vladimir Kramnik dazu:

"Botvinniks Rolle als Vorbild und seine Lehren etablierten den modernen Ansatz zur Vorbereitung auf Wettkampfschach: Regelmäßige, aber mäßige körperliche Betätigung; sehr gründliche Analyse eines relativ engen Repertoires an Eröffnungen; Kommentieren der eigenen Partien, der Partien vergangener großer Spieler und der Konkurrenten; Veröffentlichung der eigenen Kommentare, damit andere auf Fehler hinweisen können; starke Gegner studieren, um ihre Stärken und Schwächen zu entdecken; schonungslose Objektivität gegenüber den eigenen Stärken und Schwächen."  

Da ich (genau wie Vladimir Kramnik selbst) ein Schüler der berühmten Botvinnik-Kasparov-Schule war, stimme ich dieser Aussage voll und ganz zu.

Jetzt will ich Euch eine einfache Frage stellen. Es ist eine bekannte Tatsache, dass die sowjetische Mannschaft praktisch jedes einzelne Turnier gewann, an dem sie teilgenommen hatte. Und dabei spreche ich von Schacholympiaden, und Europa- und Weltmeisterschaften!

Allerdings hat die russische Mannschaft (die aus Spielern besteht, die derselben Sowjetischen Schachschule entsprungen sind) im letzten Jahrzehnt kaum eine Olympiade gewonnen, obwohl sie bei jeder einzelnen Olympiade der große Favorit war.

Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, habe ich außerdem festgestellt, dass der amtierende Weltmeister aus Norwegen kommt und (keuch!) nicht einmal Russisch spricht! Was also ist hier passiert? Funktionieren die berühmten Methoden der Sowjetischen Schachschule nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht mehr?

Viele Schachautoren haben schon versprochen, die verborgenen Geheimnisse der Sowjetischen Schachschule zu enthüllen, aber ich habe noch nie gesehen, dass das größte Geheimnis gelüftet wurde.

Aber heute werde ich dieses große, dunkle Geheimnis exklusiv den Lesern von Chess.com verraten und eine Geschichte aus meiner Jugend wird dieses Geheimnis ab besten erklären.

Ende der 1980er Jahre wurde ich zur sowjetischen Armee eingezogen und in die sibirische Stadt Nowosibirsk geschickt. Bei dieser Gelegenheit möchte ich Euch versichern, dass entgegen der landläufigen Meinung auf den Straßen sibirischer Städte keine Bären herumlaufen.

Es ist aber ein sehr kalter Ort - besonders im Winter.

Glücklicherweise hatte die Sportabteilung, in der ich diente, nichts mit dem zu tun, das wir mit dem Wort "Armee" normalerweise assoziieren.

In den mehr als zwei Jahren meines Militärdienstes musste nur einmal die berühmte Kalaschnikow abfeuern - und das war bei einem Training in der Grundausbildung. Stattdessen sollte ich meine Gegner zum Ruhm der mächtigen Sowjetarmee auf dem Schachbrett besiegen.

Eines Tages rief unser Oberst nach mir und als ich sein Büro betrat, begrüßte er mich herzlich. Hier muss ich erwähnen, dass er ein guter Mann war. Einmal, als ich während unserer morgendlichen "Politinformation" (die im Wesentlichen ein Vortrag über die Vorteile des Kommunismus gegenüber dem Kapitalismus war) eingeschlafen war, hat er mich sogar gerettet.

Ich hatte aber nicht nur geschlafen. Ich habe sogar geschnarcht, was vor allem daran lag, dass meine Nase verstopft war, da ich erkältet war (habe ich schon erwähnt, dass Sibirien nicht gerade Hawaii ist?). Mein Schlafentzug hätte leicht als Landesverrat ausgelegt werden können, aber dank diesem Oberst endete alles mit einem herzhaften Lachen. Aber ich glaube, ich schweife gerade ab.

Nachdem mich unser Oberst begrüßt hatte, fragte er, wo ich lieber spielen würde: bei der Junioren-Weltmeisterschaft, die in etwa einem Monat in Adelaide, Australien, beginnen sollte, oder bei der Mannschafts-Armeemeisterschaft, die genau zur gleichen Zeit in Riga angesetzt war..

Nach meiner offensichtlichen Antwort, erklärte er mir, dass ich, wenn ich an der Armeemeisterschaft teilnehmen würde, mit Sicherheit das Juniorenbrett (unter 20 Jahren) gewinnen und damit unserem sibirischen Militärbezirk viele Punkte im Wettbewerb zwischen allen Militärbezirken der sowjetischen Armee einbringen würde.

Ich dankte ihm für sein Vertrauen in meine Fähigkeiten. Um fair zu sein, habe ich sowohl im Jahr zuvor (1987) als auch im Jahr danach(1989) tatsächlich das Juniorenbrett vor Ivanchuk mit 12.5 von 13 möglichen Punkten gewonnen. Dennoch bestand ich darauf, dass ich lieber an der Junioren-Weltmeisterschaft teilnehmen würde.

Dann fragte er mich, ob ich ihm garantieren könne, dass ich bei der Junioren-Weltmeisterschaft eine Medaille gewinnen würde. Ich erinnerte mich sofort an eine ähnliche Situation vor dem letzten Kandidatenmatch 1974 zwischen Karpov und Korchnoi. Der Sieger sollte gegen Fischer um die Weltmeisterschaft spielen.

Beide wurden gefragt, ob sie Fischer besiegen könnten. Karpov hatte keine Zweifel am Sieg über Fischer, während Korchnoi sagte, dass Fischer unschlagbar wäre. In genau dieser Minute wurde das Schicksal dieser beiden großartigen Spieler besiegelt. Karpov wurde zum Liebling des herrschenden Systems und Korchnoi ... nun, Ihr wisst ja sicher alle, was mit Korchnoi nach dieser schicksalhaften Weltmeisterschaft von 1974 geschah.

Dennoch bin ich den Fußspuren von Korchnoi gefolgt und habe geantwortet, dass ich nicht garantieren könne, dass ich bei der Junioren-Weltmeisterschaft eine Medaille gewinnen werde. Der Oberst fragte mich noch einmal, warum ich ein Turnier mit unklarem Ausgang dem Turnier vorziehe, das ich sicher gewinnen würde (zumindest seiner Meinung nach).

Ich erklärte ihm, dass mir der Sieg der Junioren-Weltmeisterschaft eine GM-Norm einbringen würde und jungen vielversprechenden Spielern in der Vergangenheit immer einen großen Sprung in die höchste Schachebene verschafft hatte (Spassky, Karpov und Kasparov hatte alle die Junioren-Weltmeisterschaft gewonnen).

Jetzt könnt Ihr sehen, dass unser Oberst tatsächlich ein guter Mann war. Er hätte mir einfach befehlen können, an der Armeemeisterschaft teilzunehmen. Stattdessen forderte er mich auf, mir eine große Karte der Sowjetunion, die an seiner Wand hing, anzusehen.

"Sehen Sie, Gefreiter Serper, das ist eine Karte unseres wunderschönen Mutterlandes", sagte er und zeigte mit dem Finger auf die Wand.

"Ja, Sir".

"Und das, Gefreiter Serper, ist der sibirische Militärbezirk." Er malte mit seinem Finger einen großen Kreis über einen großen Teil der Karte.

"Ja, Sir", stimmte ich ihm zu.

"Diese kleine Insel, Gefreiter Serper", der Oberst tippte mit dem Finger irgendwo auf den Arktischen Ozean, "gehört auch zum Sibirischen Militärbezirk."

"Ja, Sir", wiederholte ich wie ein Papagei, während ich nach einem Zusammenhang zwischen der kleinen Insel im Arktischen Ozean und der Junioren-Weltmeisterschaft in Australien suchte.

"Hier ist der Deal, Gefreiter Serper", lächelte der Oberst. "Wenn sie bei der Junioren-Weltmeisterschaft eine Medaille gewinnen, dann wird das nicht zu ihrem Schaden sein", sagte er in Anlehnung an ein bekanntes russisches Sprichwort. "Aber wenn sie das Turnier nicht mindestens auf dem dritten Platz beenden, dann wird der Rest ihres Militärdienstes auf dieser kleinen Insel stattfinden."

Im ersten Moment war ich sprachlos. Jede dieser winzigen Inseln im Arktischen Ozean war als Chateau d'If des sibirischen Militärbezirks bekannt. Von dort kamen die Menschen nur selten zurück. Und die Chance, dass ein Schachfreak wie ich heil von einer dieser Inseln zurückzukehren würde, lag gefährlich nahe bei Null!

Andererseits wusste ich, dass ich es mir nie verzeihen würde, wenn ich die größte Chance meines ganzen Lebens verpassen würde. Also versuchte ich mich zu beruhigen und sagte in der Hoffnung, dass meine zitternde Stimme meinen emotionalen Zustand nicht beeinträchtigte: "Vielen Dank, Sir!"

Ein paar Monate später kämpfte ich gegen die besten jungen Schachspieler aus der ganzen Welt. Einige meiner Partien waren gut. Zum Beispiel diese, in der ich gegen Michael Adams, den zukünftigen Super-GM, gespielt hatte. Jahre später erhielt Michael aufgrund seiner Fähigkeit, ein Netz um die Figuren seines Gegners zu weben, den Spitznamen "Spinne".

In dieser Partie war aber nicht so klar, wer hier eigentlich die Spinne war. Ich oder mein Gegner.

Einige meiner Partien waren auch nicht so toll. Zum Beispiel das folgende Desaster gegen Susan Polgar (die damals noch für Ungarn spielte und ihr Vorname war eigentlich Zsuzsa). Ich hatte immer Probleme, gegen Mädchen zu spielen, aber in dieser speziellen Partie gab es keine Ausreden: Susan hat einfach sehr gut gespielt und ich habe schlecht gespielt und deshalb habe ich verloren:


Zum Glück war es meine einzige Niederlage in diesem Turnier und in der Partie in der letzten Runde gegen GM Jeroen Piket aus den Niederlanden war der Moment der Wahrheit angebrochen. Ich war sehr nervös, da es die Partie war, das im wahrsten Sinne des Wortes mein zukünftiges Leben bestimmen sollte. Menschen, die rauchen, nutzen Zigaretten, um mit ihren Ängsten umzugehen, aber ich habe noch nie in meinem Leben geraucht.

Anstelle einer Zigarette habe ich also während der Partie nicht weniger als 10 Tassen sehr starken Kaffee getrunken. Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, diese Partie und vor allem die Zeitnotphase zu überstehen, da mein Herz die ganze Zeit wie verrückt pochte. Wie auch immer, hier ist die Partie:

Und jetzt könnt Ihr raten, wer bei dieser Partie die größere Motivation hatte. Ein Mann, der zusammen mit seinem Trainer GM Sosonko noch ein paar Wochen in Australien verbringen, das Great Barrier Reef besuchen und unabhängig vom Ergebnis noch viele weitere Schachturniere spielen würde. Oder sein Gegner, der mit der Aussicht, auf einer einsamen Insel im Arktischen Ozean langsam aber sicher zu erfrieren, ums schiere Überleben kämpft?

Das nenne ich die Sowjetische Schachschule!

Das Ergebnis dieser Partie bescherte mir den geteilten ersten Platz und bei meiner Rückkehr in meine Kaserne wurde ich sehr herzlich empfangen.

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