Geht es im Schach immer Fair zu?
"In der Liebe und im Krieg ist alles erlaubt" (Napoleon Bonaparte)
Im Schach dreht sich alles um Liebe und Krieg.
Dass Schach ein Kriegsspiel auf 64 Feldern ist, ist wohlbekannt, aber ihr werdet euch fragen, was das Spiel eigentlich mit Liebe zu tun hat. Sucht einfach mal nach dem Twitter Hashtag #WhyILoveChess und ihr werdet eine Idee bekommen!
Wenn im Schach aber alles so Fair zugeht, warum habe ich dann vor 20 Jahren in meinem Profil auf einem Schach-Server geschrieben: "Eine weitere Kategorie von Schachspielern, die ich nicht mag, sind die Spieler, die ein Endspiel, bei dem nur noch 2 Türme auf dem Brett sind, auf Zeit gewinnen wollen."
Solche Situationen hasse ich wirklich. Hier ist eine Stellung aus einer Turnierpartie, die ich etwa zu dieser Zeit gespielt habe:
Ich habe in dieser Partie lange versucht, mit meinem Mehrbauern zu gewinnen, aber als die letzten Leichtfiguren abgetauscht waren, habe ich Remis geboten. Zu meiner großen Überraschung hat mein Gegner das Remisgebot aber abgelehnt! Ich hatte nur noch 2 Minuten Bedenkzeit für den Rest der Partie und mein Gegner hatte noch 5 Minuten und da diese Partie vor über 20 Jahren gespielt wurde, hatten wir natürlich analoge Uhren und somit keinerlei Zeitboni pro Zug.
Als mein Gegner das Remis ablehnte, wollte ich zuerst meinen Ohren nicht trauen. Das war ja keine billige Internet-Blitzpartie und der Gedanke, dass ein Großmeister einen anderen in dieser Stellung über die Zeit drücken wollte, erschien mir einfach nur absurd. Bevor ich den Turnierdirektor um eine elektronische Uhr mit Bonuszeit bat, wollte ich mich aber vergewissern, dass ich meinen Gegner richtig verstanden hatte.
Ich fragte ihn: "Du willst also diese Stellung wirklich auf Gewinn spielen?" Dieser Satz brachte meinen Gegner plötzlich aus seiner Trance und er lächelte und antwortete: "Oh nein. Natürlich nicht. Tut mir leid." Und so konnten wir uns zumindest die Blamage ersparen, dieses Endspiel bis zum bitteren Ende auszufechten.
Ich habe das Wort "Blamage" benutzt, weil ich, nachdem ich eine Uhr mit Bonuszeit gehabt hätte, angefangen hätte, die Stellung auf Sieg zu spielen und, selbst wenn ich beide Bauern verliere, die Partie nicht verlieren kann (außer, ich würde meinen Turm einstellen).
Wie ihr sehen könnt, habe ich den Versuch, eine "Tot-Remis-Stellung" auf Zeit zu gewinnen, lange Zeit als unsportlich angesehen.
Argumente wie: "Mein Gegner hat ja langsamer als ich gespielt und deshalb besserer Züge gefunden und ich habe mir Zeit gespart und deshalb schlechter gespielt. Warum soll ich jetzt meinen Zeitvorteil nicht ausnutzen?" habe ich immer abgewiegelt. Wenn man aber älter wird, lernt man, andere Meinungen zu akzeptieren und dass sie leider sogar manchmal richtig sind und man selbst falsch liegt! Also fing ich an, mir über dieses Thema nachzudenken.
Im Laufe der Jahre habe ich zahllose Schulschachturniere beobachtet und immer wieder Partien entdeckt, bei denen Stellungen wie diese auf das Brett kamen:
Kinder spielen eine solche Stellung immer aus, selbst wenn sie ohne Uhr spielen und deshalb hat ganz sicher niemand die Absicht, diese Stellung auf Zeit zu gewinnen. Sie spielen einfach nur Schach! Und ich kann euch versichern, dass einer der beiden gewinnen wird, denn ein Remis ist bei Schulschachturnieren eine absolute Seltenheit! Ich spreche natürlich über Kinder, deren DWZ weit unter 1000 liegt.
Wenn hingegen ein guter Spieler versucht, diese Stellung gegen einen anderen guten Spieler zu gewinnen, könnte das wie eine Unsportlichkeit aussehen. Die Frage ist aber: "Ab wann ist jemand ein guter Spieler und ab wann ist das weiterspielen einer solchen Stellung unsportlich?"
Sehen wir uns zum Beispiel diese Partie an, die wir erst vor einigen Wochen analysiert hatten:
Dort schrieb ich: "Ihr solltet übrigens Nakamura keinen Vorwurf machen, dass er diese "Totremis-Stellung" weiterspielte. Er ist eine Kämpfernatur und spielt jede Stellung, in der er noch irgendwelche Gewinnchancen hat. Durch diese Strategie hat er schon viele Punkte gewonnen."
Wo liegt also die Grenze, zwischen einem Spieler, der solange auf Gewinn spielt, so lange er irgendwelche Gewinnchancen sieht und einem Spieler, der seine Figuren sinnlos über das Brett zieht und seinen Gegner über die Zeit drücken will?
Hier ist ein weiteres Beispiel:
Sollte ein Super-GM in einer solchen Stellung gegen einen anderen Super-GM nicht einfach aufgeben? Karjakin wurde stark kritisiert, dass er diese Stellung bis zum bitteren Ende zu Ende gespielt hat. Mir persönlich wäre es ja peinlich, diese Stellung weiterzuspielen und würde sicher aufgeben. Am Ende entkam Karjakin aber mit einem spektakulären Remis:
Es war übrigens die entscheidende Partie des Duells und GM Karjakin gewann durch dieses Remis einen wertvollen Immobilienpreis. Sollte er jetzt also für sein angeblich unsportliches Verhalten kritisiert oder für seinen Kampfgeist gelobt werden?
Vor einiger Zeit war die Antwort auf diese Frage für mich ziemlich klar, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Leider hören wir in den meisten Fällen, wenn wir eine völlig entgegengesetzte Meinung zu unserer eigenen hören, einfach weg. Aber das ist eines der größten Probleme der modernen Gesellschaft. Deshalb sind so viele Länder politisch gespalten: Wir hören uns nicht zu!
Also möchte ich auf die kollektive Weisheit aller Leser hören und dieses Problem lösen!
Hier sind die möglichen Antworten:
- Man kann alles machen, was legal ist.
- Es gibt ungeschriebene Gesetze, die man nicht brechen darf. (Was aber sind diese Gesetzte? Und sind diese Gesetzte für alle Spieler aller Spielstärken dieselben oder hat jede Spielstärke ihre eigenen Regeln?)
- Regeln sind dazu da, um gebrochen zu werden.
Was denkt ihr? Schreibt es mir in den Kommentaren.