Jeder-gegen-jeden Turniere sind Tod!
Als ich Ende des letzten Jahrhunderts eines der großen amerikanischen Open-Turniere spielte (ich glaube, es war das North American Open in Las Vegas), stieß ich an einem Verkaufsstand auf ein sehr interessantes Buch.
Nun, da das Buch von GM John Nunn stammt, denke ich, dass die Worte "sehr interessant" überflüssig sind. Wir sagen ja auch nicht "süßer Zucker" oder "langweilige Berliner Verteidigung."
Dieses Buch heißt Secrets Of Practical Chess (Geheimnisse des praktischen Schachs) und Nunn schreibt darin über Themen, mit denen Turnierspieler regelmäßig konfrontiert werden.
Im Kapitel über Computer verglich der Autor die neuesten Schachengines und besonders dieser Satz stach mir dabei ins Auge:
Es sollte unter der aktuellen Windows-Version laufen. DOS ist tot; vergiss alles, was mit DOS läuft.
Das war ein großer Schock für mich, denn mein Laptop hatte einen Pre-Pentium-Prozessor und sein RAM war so klein, dass er keine Windows-Version unterstützen würde. Dennoch war ich mit meinen DOS-basierten Anwendungen (Datenbanken und Schach-Engines) sehr zufrieden und hatte eigentlich nicht vor, etwas zu ändern.
Etwa ein halbes Jahr später war ich dann doch stolzer Besitzer eines neuen, glänzenden Laptops mit Windows 95. Erst dann verstand ich, was John Nunn meinte, als er sagte: "DOS ist tot." Ich habe den Übergang von DOS zu Windows so sehr genossen, dass Windows 95, obwohl es schon lange nicht mehr hergestellt wird, für immer meine Lieblingsversion bleiben wird.
Mir scheint, dass wir bei Jeder-gegen-jeden-Turnieren eine ähnliche Situation haben. Und nichts als der aktuelle Weltcup könnte besser untermalen, dass "Rundenturniere tot sind".
Sehen wir uns aber genauer an, was wir verpassen, wenn wir diese endlosen Elite-Rundenturniere nicht mehr geben wird:
1. Drama
Wir alle stehen doch auf Dramen, nicht wahr?
Beim Weltcup bekommen wir jeden Tag neue Dramen zu sehen. Wer könnte zum Beispiel das Drama um Nihal Sarin vergessen? Als er bereits mit einem Bein in der nächsten Runde stand, unterlief dem indischen Wunderkind ein Fehler, der ihn noch lange in seinen Albträumen verfolgen wird!
2. Fehler
Wenn wir von Fehlern sprechen, müssen wir die offensichtliche Tatsache zugeben, dass es beim Weltcup viele davon gab. War es eine schlechte Sache? Ja, wenn man der Spieler ist, der den Fehler begangen hat. Aber die Zuschauer haben lieben sie (siehe Punkt Nummer eins: Drama). So hat ein junger russischer Großmeister am selben Tag gleich zweimal schrecklich gepatzt:
3. Vielfalt der Eröffnungen
Der Weltcup zeigte ganz klar auf, dass es außer Italienisch und der Berliner Verteidigung auch noch andere Eröffnungen gibt. In Khanty-Mansiysk wurde so ziemlich jede bekannte Eröffnung gespielt. Selbst diese:
4. Einzigartige Ereignisse
Der Weltcup hat etwas noch Selteneres als eine Yeti-Sichtung hervorgebracht.
In vielen Jahren werden die Leute bezweifeln, ob es wirklich passiert ist. Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass es wie bei der Mondlandung Verschwörungstheorien geben wird, die dies Abstreiten. Es ist aber wirklich passiert und wir werden noch unseren Enkelkindern davon erzählen, dass wir das damals live miterleben durften.
Es klingt immer noch unwirklich, aber eine Partie zwischen den Großmeistern Shakhriyar Mamedyarov und Teimour Radjabov hat wirklich einen Sieger hervorgebracht!
Ich könnte jetzt noch mehr über die offensichtlichen Vorteile des K.o.-Systems schreiben, aber Ihr fragt Euch jetzt schon sicher, ob die Spieler selbst vielleicht Round-Robin Turniere lieben und ob dies der Grund ist, warum sich noch organisiert werden.
Die Antwort ist nein. Denn wenn man auf dem Top-Niveau bereits in den ersten Runden einen Fehler macht, ist das Turnier praktisch auch schon gelaufen und kein Spieler hat besonders viel Freude daran, ein hoffnungsloses Turnier spielen zu müssen.
GM Vladislav Tkachiev war Kateryna Lagnos Sekundant beim Kandidatenturnier der Damen 2019. Obwohl Lagno das Turnier als dritte beendete, hatte sie eigentlich in der gesamten zweiten Turnierhälfte keine realistische Chance mehr auf den Sieg. Und das schrieb dann Tkachiev nach dem Turnier auf Facebook:
Dieses Format für das Kandidatenturnier hat kein Existenzrecht. Es ist ein unmenschliches und sadistisches Experiment mit den Spielerinnen und allen anderen Beteiligten.
Ich habe meine Meinung zu modernen Elite-Turnieren bereits geäußert und es sieht so aus, als würden die Spieler die Rundenturniere auch nicht wirklich mögen.
Warum gibt es sie also noch? Wenn Ihr eine Idee habt, dürft Ihr es mir im Kommentarfeld gerne mitteilen.