Kurze oder lange Rochade?
Ja, genau diese Frage höre ich oft von meinen weniger erfahrenen Schülern: "Was ist besser: Die kurze Rochade (0-0) oder die lange Rochade(0-0-0)?" Únd wie bei den meisten allgemeinen Fragen zum Thema Schach lautet die Antwort: "Es kommt darauf an".
Die kurze Rochade ist im Schach weitaus häufiger zu sehen. Ich habe keine genauen Statistiken, aber ich würde vermuten, dass das Verhältnis irgendwo bei 10:1 liegt. Trotzdem bedeutet das nicht, dass die kurze Rochade besser ist als die lange. Der Hauptgrund, warum 0-0 viel beliebter ist als 0-0-0, ist einfach, dass es bei den meisten Eröffnungen unter anderem darum geht, den König möglichst schnell in Sicherheit zu bringen.
Da man für die kurze Rochade einen Zug weniger braucht, kommt der König schneller in Sicherheit und der Turm schneller in die Partie. Deshalb ist in offenen Partien (beginnend mit 1.e4 e5) und besonders in Eröffnungen, in denen schnell scharfe Komplikationen entstehen (wie beim Königsgambit, der italienischen Eröffnung, der Zwei-Springer-Verteidigung usw.) die kurze Rochade für beide Spieler fast obligatorisch.
IM Rashid Nezhmetdinov hat einmal mit einem seiner Schüler eine Partie analysiert. Der Schüler fragte, ob er kurz oder lang rochieren solle. "Es gibt einen Unterschied zwischen 0-0 und 0-0-0", antwortete Nezhmetdinov, "es ist eine zusätzliche 0, die direkt in das Ergebnis der Partie übergeht." Natürlich war es nur ein Scherz, denn Nezhmetdinov war einer der besten Angriffsspieler der Schachgeschichte und normalerweise folgt auf eine lange Rochade ein Bauernsturm am Königsflügel. Hier ist eine seiner Partien, die diesen Punkt veranschaulicht:
Ich erinnere mich an einen Witz meiner Kindheit:
Frage: Warum wird die Rochade auf den Damenflügel "lange Rochade" genannt?
Antwort: Weil es einen Zug länger dauert, bis Du die klassische Rochadestellung erreicht hast, weil Du ja noch König b1 spielen musst.
In diesem Witz steckt viel Wahrheit. Tatsächlich ist es durchaus üblich, Kc1-b1 zu spielen, nachdem man den Damenflügel rochiert hat. Sehen wir uns die folgende Partie von Anatoly Karpov an. Es ist eine sehr scharfe jugoslawische Variante des Sizilianischen Drachen, bei der alles von der Geschwindigkeit des Angriffs abhängt. Und doch investierte der Weltmeister einen ganzen Zug, um Kb1 zu spielen, bevor er mit seinem Bauernsturm am Königsflügel begann.
Manchmal wissen aber selbst die weltbesten Spieler nicht, ob sie kurz oder lang rochieren sollen. Hier ist ein gutes Beispiel dafür:
Jan Timman schrieb in seinen Anmerkungen über seinen Zug 8.Dd2:
"Dieser Zug bereitet die lange Rochade vor und wurde schon öfters von Weaver Adams gespielt. [...] Auf dem Top-Level hat ihn aber noch kaum jemand gespielt. Das ist ziemlich überraschend, denn es ist nicht klar, wie Schwarz auf diesen Zug antworten soll. Am beliebtesten ist 8.Lc4 und die kurze Rochade vorzubereiten."
Ich habe die Datenbank durchsucht, um zu sehen, auf welche Seite Top-GMs in der oben gezeigte Stellung rochiert haben. Hier ist das Ergebnis:
Lange Rochade: Hikaru Nakamura, Max Euwe, Fabiano Caruana, Timman und Nigel Short.
Kurze Rochade: Vugar Gashimov, Dmitry Andreikin, Parimarjan Negi und Nigel Short.
Wie Ihr sehen könnt, hat Short sogar auf beide Seiten rochiert! Zuerst hat er lang rochiert und damit niemand geringen als Vladimir Kramnik geschlagen:
Das Lustige ist, dass er sich 10 Jahre später GM David Baramidze für die kurze Rochade entschied und verlor!
Lasst uns nun einen merkwürdigen Fall untersuchen, in dem sich zwei der besten Spieler der Schachgeschichte nicht einigen konnten. Ich wette, die meisten von Euch kennen diese berühmte Partie:
Die Partie ist ja eigentlich für Bobby Fischer's ikonischen Zug 19.Tf6 bekannt. Das ist übrigens auch die erste Partie von Fischer, die ich mir angesehen habe. Lasst uns aber über Fischers Entscheidung, auf den Königsflügel zu rochieren, sprechen. In seinem berühmten Buch My 60 Memorable Games schreibt Fischer über die Rochade:
"Eine Alternative wäre 14.0-0-0 Sd6 15.Se2. Ich dachte aber, der weiße König wäre nach der kurzen Rochade sicherer - der Nachteil ist, dass die Bauern am Königsflügel nicht mehr sicher vorrücken können."
GM Garry Kasparov hatte über Fischers Zug eine eigene Meinung: "Eine Entscheidung, die viel über Fischers Stil aussagt." Er fügte auch einige Varianten hinzu:
Wie Ihr seht, haben wir einen ultimativen Showdown im Schwergewicht: Fischer bevorzugt 14.0-0 und Kasparov gefällt 14.0-0-0 besser. Wer hat Recht? Eure Vermutung ist genauso gut wie meine. Sogar verschiedene Engines haben unterschiedliche Vorlieben. In einem sind sich jedoch alle einig: Weiß steht klar besser, egal wohin Weiß rochiert.
Es gibt also leider keine Faustregel, die Euch bei der Entscheidung, ob Ihr kurz oder lang rochieren sollt, helfen würde und manchmal können sich selbst die besten Spieler bei diesem Thema nicht einigen. In den meisten Fällen sollten Ihr Eure Entscheidung basierend auf Eurer Erfahrung und Ihrem Spielstil treffen. Viel Glück dabei!