Nepomniachtchi: Was ist schiefgelaufen?
Die Mitglieder von Chess.com sind die Besten! Ich habe bereits in einem älteren Artikel geschrieben, dass Ihr immer nett, intelligent und hilfsbereit seid. Deshalb, und weil Eure Kommentare immer interessant sind und ich viel davon lernen kann, lese ich sie auch immer!
Nehmen wir zum Beispiel die Kommentare zu meinem letzten Artikel. Dort ist mir aufgefallen, dass sich unser Mitglied @eilysiumm einen Titel für diesen Artikel ausgedacht hat. Ich habe sogar nachgesehen, ob er einen Entwurf für diesen Artikel hinterlassen hat, aber leider hat er das nicht gemacht. Ich denke, dass ich den Artikel also selbst schreiben muss.
Die ersten sechs Partien der Weltmeisterschaft waren sehr spannend und vielversprechend und die ganze Schachwelt wartete auf einen aufregenden Höhepunkt. Leider war das Ende der WM dann sehr enttäuschend. Ian Nepomniachtchi spielte einige Züge, die nur schwer zu erklären sind. Ihr habt sicher schon viele Kommentare über große Fehler gelesen, die er in den Partien neun und 11 begangen hat. Ich habe kürzlich mit einem meiner Schüler gesprochen und von ihm die wahrscheinlich beste Beschreibung der zweiten Hälfte der Weltmeisterschaft gehört. Als ich ihn nach einigen seiner bestenfalls fragwürdigen Züge fragte, antwortete er: "Ich habe die WM gesehen. Ich glaube, ich wurde vergiftet."
Aber Spaß beiseite. Versuchen wir die Ursache der Katastrophe herauszufinden, die dem Herausforderer widerfahren ist. Wir werden bestimmte Elemente untersuchen, die das Ergebnis der WM stark beeinflusst haben.
1) Eröffnungen
Dies war definitiv der wichtigste Teil von Nepomiachtchis Training. Sein Team konnte in Skolkovo (der russischen Version des Silicon Valley) einen Supercomputer einsetzen und hatte dadurch die vielleicht beeindruckendste Eröffnungsvorbereitung in der Geschichte der Schachweltmeisterschaft. In einem kürzlich geführten Interview sagte Daniil Dubov (einer von Magnus Carlsen's Sekundanten) dass es sich um einen koordinierten Angriff eines Supercomputers und eines Brainstormings eines starken analytischen Teams handelte, aber glücklicherweise stellte sich heraus, dass Carlsens Eröffnungspanzerung stark genug war.
Die Eröffnungsvorbereitung von Nepomiachtchi verdient also die bestmögliche Note, aber es gibt immer die andere Seite der Medaille. In einem Interview nach der WM gab Ian zu, dass er vor der Weltmeisterschaft wahrscheinlich etwas zu viel gearbeitet hat. Das könnte der Grund sein, warum dem Spiel des Herausforderers die gewohnte Kreativität und Frische fehlte.
2) Die öffentliche Aufmerksamkeit
In den letzten Monaten vor der WM war Schach wahrscheinlich eines der beliebtesten Themen in Russland. Der Slogan "Holen wir den Titel nach Russland zurück" war allgegenwärtig und manchmal sah es so aus, als wäre das gesamte Land im Schachfieber—Nepomnichtchi trat in einer Reihe von TV-Shows auf und zahlreiche Prominente wünschten ihm Glück und gaben ihm manchmal sogar spezielle Ratschläge für die WM. Ich erinnere mich noch an einen: "Schau nicht in die Augen von Magnus, wenn Du gegen ihn spielst!"
Diese Art von Aufmerksamkeit lenkte Ian definitiv von seiner Vorbereitung ab. Außerdem konnte er ein berühmtes russisches Sprichwort nicht vergessen: "Zwischen Liebe und Hass liegt nur ein Schritt." Stellt Euch einmal vor, wie es sein muss, wenn man Millionen von Menschen, die einen anfeuern, enttäuscht.
Übrigens können wir bereits jetzt schon den Beginn einer Hexenjagd miterleben. Bisher war es Dubov, dem so etwas wie Landesverrat vorgeworfen wurde. Ein prominenter russischer Großmeister und Kommentator drückte öffentlich seine Hoffnung aus, dass Dubov aus der russischen Nationalmannschaft geworfen wird und kein Geld mehr vom Russischen Schachverband erhält. Er beendete seine Tirade mit den Worten "Unsportlich, Danya!" Falls diese letzten Worte bei Euch keine Erinnerungen wachrufen sollten, habe ich hier einen Auszug aus Garry Kasparov's Buch Meine großen Vorkämpfer:
"Die Reaktion der Behörden war heftig: Wegen 'Fehlverhaltens' wurde Korchnoi per Dekret des Sportausschusses für ein Jahr die Teilnahme an internationalen Turnieren untersagt und sein Großmeisterstipendium um ein Drittel gekürzt. Eine Kampagne gegen ihn wurde in der Zeitung Sovyetsky Sport geführt, wo sein ehemaliger Freund, aber jetzt erbitterter Feind, Petrosian einen Artikel mit der Überschrift 'Über ein Interview von V. Korchnoi' veröffentlichte. Daraufhin erschienen dann empörte Leserbriefe mit der Überschrift 'Unsportlich, Großmeister!'"
Bisher ist Nepomiachtchi nicht in Gefahr, einer ähnlichen Kampagne ausgesetzt zu werden. Die einzige wirklich kritische Veröffentlichung, die vorschlug, ihm seinen GM-Titel zu entziehen, erschien in der russischen Version von "Titanic", aber die WM ist ja gerade erst zu Ende.
Wie Ihr sehen könnt, war die übermäßige öffentliche Aufmerksamkeit für Ian vor und während der WM ein großer negativer Faktor. Deshalb hätte er wirklich einen erfahrenen Menschen gebraucht, der ihn vor der öffentlichen Aufmerksamkeit geschützt hätte. Jemanden, der ihm geraten hätte, die TV-Shows abzusagen und sich auf seine Vorbereitung zu konzentrieren. Jemanden, der ihn auf die harten Momente der WM vorbereitet hätte. Und deshalb kommen wir zu:
3) Vaterfigur
Viele ehemalige Weltmeister hatten eine Person in ihrem engen Umfeld, die mehr als nur ein Schachsekundant war. Ich denke da an Tandems wie Mikhail Tal-Alexander Koblencs, Boris Spassky-Igor Bondarevsky, Anatoly Karpov-Semyon Furman, oder Kasparov-Mikhail Botvinnik. Nicht umsonst nannte Spassky seinen Sekundanten Bondarevsky "Vater" (er benutzte wirklich das deutsche Wort "Vater"). Manchmal kann ein kleiner Ratschlag einer väterlichen Figur einen großen Unterschied machen.
Betrachten wir die Situation von Nepomniachtchi nach der sechsten Partie. Er hat ein sehr lange und harte Partie verloren, in der er aber eigentlich ganz gut gespielt hat. Und die Partie hätte so oder so ausgehen können. Danach hätte er mehr als alles andere moralische Unterstützung gebraucht.
So beschreibt Kasparov eine ähnliche Situation. Er hatte gerade im Halbfinale gegen GM Viktor Korchnoi die erste Partie verloren und wurde am frühen Morgen von einem Anruf geweckt:
"'Hier spricht Moskau...' Das anschließende Gespräch mit Botvinnik war der Ausgangspunkt für die Veränderungen im Spiel. Michail Moisejewitsch verblüffte mich buchstäblich mit der Frage: 'Erinnerst Du Dich, was vor 50 Jahren passiert ist?' Halbwach war es nicht leicht, mich zurechtzufinden, aber dann fiel es mir ein: '1933 hast Du ein Duell gegen Flohr gespielt.' Prompt folgte die nächste Frage: 'Und wie ist die Schlacht verlaufen?' Ich musste mich anstrengen. 'Ich glaube, Du hast die erste und die sechste Partie verloren, aber in der neunten und zehnten Partie hast Du Dich revanchiert', antwortete ich. Botvinnik sagte darauf: 'Und Du hast die 6. Partie noch nicht verloren!'. Nach einer kurzen Pause fügte er dann noch hinzu: 'Im Großen und Ganzen ist ja alles in Ordnung. Etwas mehr Gelassenheit, und Du solltest das Duell gewinnen.' Jetzt war ich von positiven Emotionen erfüllt. In diesem schwierigen Moment war es angenehm zu erfahren, dass mein Schach-Mentor keine Zweifel an einem erfolgreichen Ausgang dieses Duells hatte."
Damals, vor Skype und Mobiltelefonen, hatte nur ein Anruf von einem sehr weisen Mann einen großen Unterschied gemacht. Meiner Meinung nach hätte Ian die Unterstützung einer solchen Person gebraucht. Sein Team hätte Vladimir Kramnik, Viswanathan Anand, oder Kasparov kontaktieren sollen... Weise Menschen mit umfangreicher WM-Erfahrung, deren Ratschläge sehr hilfreich gewesen hätten sein können. Am besten noch bevor die WM überhaupt begonnen hatte. Was hätte Kasparov möglicherweise vorschlagen können? Hier ist meine Vermutung, wie ein Telefonat zwischen Ian (I) und Garry (G) verlaufen hätte können:
G: Erinnerst Du Dich, was vor 35 Jahren passiert ist?
I: Ja, das hast Du gegen Karpov um die Weltmeisterschaft gespielt.
G: Und wie ist die Schlacht verlaufen?
I: Du hast drei Partien in Serie verloren.
G: Richtig! Und falls Du Dich nicht erinnerst, habe ich dann Folgendes getan (liest einen Auszug aus seinem Buch über die WM gegen Karpov vor):
"In dieser Extremsituation habe ich mit meinen Trainern besprochen, wie ich in der 20. Partie mit Weiß spielen soll. Sollte ich ein schnelles Remis erzwingen, um mein mentales Gleichgewicht wiederzufinden? Oder wie üblich einen Kampf anstreben? 'Warum nicht?', sagte ich. 'Ich habe gerade drei Partien in Folge verloren, kann ich denn wirklich eine vierte verlieren?' Aber Misha Gurevich, der nicht nur im Schach, sondern auch im Glücksspiel große Erfahrung hatte, antwortete: 'Die Wahrscheinlichkeitstheorie funktioniert hier nicht. Wenn Du Roulette spielst, kannst Du jedes Mal auf Schwarz setzen und trotzdem jedes Mal verlieren!' Das ist traurig, aber wahr: Es ist sinnlos zu glauben, dass einem nach mehreren Unglücken das Glück lächeln muss. Es gibt keine kosmischen Gleichgewichte, die alles ausgleichen...... Wir entschieden uns dann, die 20. Partie nicht zu spielen (also ein kurzes Remis anzustreben), in der 21. Partie den Angriff Karpovs abzuwehren und die 22. Partie zur 'Vergeltungspartie' zu machen."
Die Geschichtsinteressierten unter Euch werden sich sehr wahrscheinlich an diese ziemlich bemerkenswerte "Vergeltungspartie", wie Kasparov sie nannte, erinnern. Kasparov zauberte in einer Remisstellung einen überraschenden Zug auf das Brett und feierte einen spektakulären Sieg!
Wäre Ian Kasparovs Strategie gefolgt, hätte er in der siebten Partie ein leichtes Remis angestrebt, hätte Carlsens Angriff in der achten Partie abgewehrt und die neunte Partie zu seiner "Vergeltungspartie" gemacht und die WM hätte einen komplett anderen Verlauf nehmen können. Obwohl Nepo in der siebten Partie (also direkt nach seiner Niederlage) wirklich ein kurzes Remis gemacht hatte, hatte er sich dann aber entschieden, bereits in der achten Partie mit Schwarz auf Sieg zu spielen.
Nach der Partie gab Nepomniachtchi zu, dass er nach De7 eine Remisstellung gesehen hatte. Ians verzweifelter Versuch, am Königsflügel etwas Initiative zu entwickeln, erinnerte mich an eine andere WM-Partie. Dort beschloss Korchnoi, der ebenfalls im Rückstand lag, die Initiative am Königsflügel zu ergreifen, indem er den h-Bauern vorzog. Auch dieser verzweifelte Versuch scheiterte grandios:
Nach der Niederlage in der achten Partie gab es für Ian zwar noch etwas Hoffnung (vergesst nicht, dass selbst Kasparov in einer WM drei Partien in Folge verloren hat), aber leider war der Geist des Herausforderers völlig gebrochen und der Rest der WM war wirklich schmerzhaft anzusehen.
Versteht mich nicht falsch. Ich gebe Nepomniachtchis Sekundanten keinerlei Schuld. Sie sind Top-Profis und haben ihren Schachjob sehr gut gemacht. Und wenn sie abseits des Schachbretts Probleme hatten, handelten sie bedauerlicherweise manchmal ihrem relativ jungen Alter entsprechend.
Wir leben ja in einem Meme-Zeitalter, in dem fast alles ein Meme ist. Wir hatten sogar Kongressanhörungen über eine Reihe von Meme-Aktien, die die Wall Street im Jänner dieses Jahres fast zum Absturz gebracht haben. Wir sollten uns also nicht wundern, dass sich Ian in dieser schwierigen Situation veränderte. Er schnitt sich seinen Herrendutt ab und setzte voll auf einen Gigachad Look. Sein Sekundant Sergey Karjakin kündigte vor der Partie an: "Heute wird Ian gewinnen." Tja... Wir kennen das Ergebnis der Partie.
Ich glaube, Carlsen folgte einem anderen Mem:
Wie auch immer. Die WM ist vorbei und das Leben geht weiter. Die wichtige Frage lautet also jetzt: Hat Alireza Firouzja eine Vaterfigur?