Seid Ihr bereit für die Zukunft des Schachs?
Als die Corona-Pandemie begann, betrachteten sie viele Menschen als ein Ärgernis, das früher oder später wieder verschwinden würde. Mittlerweile hat sich die Meinung der Bevölkerung auf ein anderes Extrem verschoben. Das Leben wird niemals mehr so sein wie vorher, selbst wenn die Pandemie endlich vorbei ist. In der Tat sieht es so aus, als würden viele Unternehmen (insbesondere Technologiefirmen) ihre Mitarbeiter aufgrund zahlreicher finanzieller und anderer Vorteile dauerhaft im Home-Office arbeiten lassen. Dass Microsoft seine Einzelhandelsgeschäfte dauerhaft schließen wird, ist wohl ein Zeichen der Zeit.
Ganz ähnlich erging es den meisten Turnierschachspielern. Zuerst dachten wir, dass die Online-Migration nur eine vorübergehende Sache wäre, um den Sturm zu überstehen, aber mittlerweile ist klar geworden, dass das Internetschach unsere neue Realität ist. GM Sosonko hat zu diesem Thema sogar einen interessanten Artikel auf einer beliebten russischen Website geschrieben. Der Titel des Artikels ist ziemlich aussagekräftig: "Das Ende?" Ob es uns gefällt oder nicht, Internetschach ist unsere Zukunft und wir müssen uns anpassen. Das Ziel dieses Artikels ist es, den Hauptunterschied zwischen OTB-Partien (OTB = Over-the-Board - also Schach am Brett) und Online-Schach zu unterstreichen.
Internetschach ist unsere Zukunft und wir müssen uns anpassen.
Eine außenstehende Person könnte sagen "Internet, Schachbrett ... es ist doch alles Schach". Das ist jedoch so, als würde man ein Seepferdchen mit einem Pferd vergleichen. Es sind völlig verschiedene Tiere, die aber einige Ähnlichkeiten haben. Sie haben ja beide ein Paar Augen, nicht wahr? Beginnen wir unseren Vergleich von Schach und Internetschach mit dem offensichtlichsten.
Die Internetverbindung
Mit Internetschach können Spieler aus aller Welt kostenlos an großen Turnieren teilnehmen und gegen die besten Spieler der Welt spielen. Es ist auch viel billiger Online-Events zu organisieren, ABER um online zu spielen, benötigt man eine Internetverbindung (oder sollte ich besser sagen: "Eine stabile Internetverbindung"?). Fragt doch mal GM Ding Liren, wie es sich anfühlte, als er kürzlich in einer Partie gegen Magnus Carlsen seine Internetverbindung und damit eine Partie verlor, die er wohl locker Remis halten hätte können.
Bei den letzten Schulschach-Turnieren habe ich viele Partien gesehen, die aufgrund von Verbindungsproblemen verloren gingen. Ich würde es hassen, in den Schuhen der Eltern zu stehen, die ihrem siebenjährigen Kind die schlechte Nachricht überbringen müssen: "Du hast gerade wegen unserem schlechten Internet verloren, aber das ist in Ordnung, Schatz, es ist ja nur ein Spiel."
Diese Besonderheit des Internetschachs führt zu einem weiteren Phänomen: Die Spieler geben nicht auf, sondern spielen völlig verlorene Stellungen bis zum Schachmatt. Das erinnert mich an eine alte Geschichte, die vor etwa 50 Jahren passiert ist. Damals gab es noch Hängepartien und ein Meister unterbrach eine Partie in einer völlig verlorenen Stellung und kam am nächsten Tag in den Schachclub, um die Partie fortzusetzen. Als sein Gegner ihn am Brett begrüßte, gab der Meister die Partie sofort auf. Ein Freund fragte ihn, warum er die Partie nicht am Tag zuvor schon aufgegeben hatte. Die Antwort des Meisters war ziemlich einleuchtend: "Nun, mein Gegner hätte ja einen Autounfall oder Herzinfarkt haben können. Man weiß ja nie. Als ich ihn heute bei guter Gesundheit sah, gab ich auf." Spieler, die bis zum Schachmatt spielen und hoffen, dass ihr Gegner seine Verbindung verliert, erinnern mich immer an diesen Meister. Natürlich spreche ich hier nur von fortgeschrittenen Spielern. Wie ich in diesem Artikel erklärt habe, sollten Anfänger ja grundsätzlich niemals aufgeben!
Das Fehlen eines Schiedsrichters
Die Online-Justiz ist blind. Dem Schachserver ist es egal, ob man Großmeister oder Anfänger ist. Alle Entscheidungen sind gleich und es gibt keinen Menschen, bei dem man sich Beschweren könnte.
Wenn man eine OTB-Partie spielt und ein Anliegen oder einen Anspruch hat, gibt es einen Schiedsrichter, mit dem man sprechen kann. Hier ist ein einfaches Beispiel. In meinem letzten Artikel, betrachteten wir den seltsamen Fall, dass zwei Supergroßmeister 32 Züge lang ein Turmendspiel spielten. Nun, die Menschen lernen von ihren Idolen, daher war ich nicht überrascht, nur zwei Wochen später diese Partie zu sehen:
Ich will hier keine Namen von Amateurspielern nennen und verwende stattdessen nur deren Rating. Als dieses Endspiel auf dem Bildschirm war, hatte meine Schülerin noch etwa 1 Minute Zeit (die Zeitkontrolle war 30 + 0) und wenn es ein reguläres Turnier gewesen wäre, hätte sie sicher unzureichende Gewinnchancen beansprucht. In diesem Fall würde die Partie entweder sofort als Remis deklariert werden oder ein Schiedsrichter würde die Uhr mit einer Zeitverzögerung versehen. Dies war vor etwa 20 Jahren, als viele Menschen noch eine analoge Uhr verwendeten, ein Standardverfahren bei amerikanischen Turnieren. In einem solchen Fall verloren die Spieler die Hälfte Ihrer verbleibenden Bedenkzeit, erhielten jedoch eine Digitaluhr mit Zeitverzögerung. In beiden Fällen hätte meine Schülerin ein sicheres Remis gehabt. Mein Rat ist in diesem Fall ganz einfach: entweder mit einem Inkrement spielen oder... siehe nächstes Thema.
Premoves
Bullet-Schach (oder sogar Hyperbullet) sind verrückte Blitz-Zeitnot-Kämpfe und den meisten in der realen Welt zu chaotisch, aber sie sind ein Grundnahrungsmittel für Online-Schach und ihr Kernmechanismus ist der Premove.
Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal den Begriff Premove während meines Schachunterrichts verwenden würde, aber das ist die Realität der neuen Welt, in der wir leben. Jeder Internet-Schachspieler sollte Premoves beherrschen. Es geht dabei aber nicht um die Technik, wie man einen Premove ausführt. Es geht auch darum, wann man einen Premove verwenden sollten und wann nicht, um so etwas wie diese beliebte Bulletfalle zu vermeiden:
Mausslips
Online-Schach erfordert Präzision. Es gibt keine umgestürzten Figuren, Figuren, die zwischen 2 Feldern platziert sind, oder Spieler, die in Zeitnot das halbe Brett umwerfen. Manchmal kann einem das unbarmherzige Internet jedoch einen Zug zwingen, den man eindeutig nicht beabsichtigt hat. Wenn ihr schon eine Weile im Internet gespielt habt, habt Ihr definitiv schon Eure Erfahrungen mit Mausslips gemacht. Sie sind wie ein Virus, gegen den es keine Medizin und keinen Impfstoff gibt und niemand ist dagegen immun. Hier ist ein aktuelles Beispiel:
Dies ist ein weiterer Grund, warum manche Leute niemals aufgeben und bis zum Schachmatt spielen. Hier ist ein gutes Beispiel aus einer Schulpartie. Weiß zeigte im Endspiel Dame gegen König eine sehr gute Technik, aber genau als der Moment des Triumphs so nah war, geschah die Katastrophe:
Übrigens hat Weiß hier die bekannte "Chepukaitis-Regel" gebrochen: "Spielt im Blitz immer kurze Züge. Das spart Zeit!" Daher hätte Weiß seine Königin auf e8 ziehen sollen, was auch die Gefahr eines Patts aufgrund eines Mausslips beseitigt hätte.
Betrug
Leider muss ich auch das Thema Betrug ansprechen. Ich will Euch hierzu folgende Partie zeigen:
In dieser Partie, die von zwei Spielern mit einem Rating von unter 1000 gespielt wurde, könnt Ihr alle typischen Fehler sehen, die Spieler dieses Levels machen. Viele davon haben wir in diesem Artikel besprochen. Ich spreche dabei aber nicht einmal von den Grundlagen der Schachstrategie, da dies ein zu fortgeschrittenes Thema für Spieler dieses Niveaus ist. Wenn sowieso jeder Zug eine mittlere Katastrophe ist, was interessiert dann schon ein schwaches Feld oder ein rückständiger Bauer? Der Spieler mit dem Rating von 700, der in der oben gezeigten Partie mit Schwarz gespielt hatte, spielte jedoch ganz anders. In der gesamten Partie machte er nicht einen Fehler (genau wie im gesamten Turnier!) und seine strategischen Pläne waren ziemlich beeindruckend. "Keine Fehler?" Ihr fragt Euch jetzt vielleicht: "Aber was ist mit 14...Sh5"? Ich weiß, die meisten Spieler würden es vorziehen, den Bauern mit 14...Sd7 zu decken oder ihn einfach mit 14...exd4 zu tauschen. Aber keine Sorge! 14...Sh5 ist kein Fehler, sondern ein positionelles Bauernopfer, das Schach-Engines wirklich mögen.
Mein Schüler beendete das Turnier mit 6 Punkten aus 7 Partien. Dies war also seine einzige Niederlage. Chesskid.com hat das Konto dieses Spielers später geschlossen, aber der Schaden war bereits angerichtet. Chess.com hat im letzten Monat sogar über 10.000 Konten wegen Verstößen gegen das Fairplay geschlossen!
Viele Leute vergleichen Betrug mit Diebstahl. Meiner Meinung nach ist Betrug viel schlimmer. Wenn Euch jemand 20 Euro klauen würde, wärt Ihr definitiv über den finanziellen Verlust und vielleicht sogar über die Ungerechtigkeit verärgert. Ihr habt ja auch hart gearbeitet, um diese 20 Euro zu verdienen - und dann hat sie Euch jemand einfach gestohlen. Ich bezweifle aber, dass der Diebstahl Euer Leben in bedeutender Weise verändern würde. Vergleicht das nun mit der Situation, in der ein Kind sehr hart gearbeitet hat, um Vereins oder Kreismeister zu werden. Und dann wird ihm der Titel praktisch gestohlen. Es ist durchaus möglich, dass ein sehr junges Kind von dieser Ungerechtigkeit so frustriert ist, dass es sogar mit dem Schach aufhört! Ich bin mir sicher, dass wir viel weniger Fälle wie diesen hätten, wenn mehr Menschen diesen Aspekt des Betrugs verstehen würden. Leider sehen viele Spieler (insbesondere Kinder) die Verwendung einer Schach-Engine während einer Partie als eine Art Internet-Trolling an, ohne dass klar ist, dass dies etwas völlig anderes ist. Personen, die während ihrer Partien Schach-Engines verwenden, sollten bedenken, dass erfahrene Spieler anhand vieler direkter und indirekter Hinweise einen solchen Betrug recht leicht erkennen können. Meiner Meinung nach ist es die Pflicht aller Schachtrainer, das ihren Schülern zu erklären.
Abschließend möchte ich betonen, dass die Diskussion, ob Internetschach "besser" oder "schlechter" als normales Schach ist, überhaupt keinen Sinn macht. Es ist einfach anders. Der Generaldirektor der FIDE, GM Sutovsky, schrieb auf seiner Facebook-Seite zum Mausslip von Hou Yifan in ihrer Partie gegen Kateryna Lagno:
Offensichtlich ist Online-Schach kein richtiger Sport. Da es sich aber um eine Mischung aus Sport und Show handelt, ist das Element der Unvorhersehbarkeit hier recht gut aufgehoben.
Hier ist noch ein relevantes Stück Geschichte für Euch. Die Firma Ford stellte 1908 das Modell T vor. Viele Hersteller von Pferdekutschen beklagten sich wahrscheinlich darüber, dass Autos sehr gefährlich sind, zu Unfällen führen und Tausende von Menschen sterben würden. Aber einige von ihnen sahen eine neue Chance. Der berühmte Autohersteller Studebaker war ursprünglich ein Hersteller von Fuhrwerken und Kutschen, konnte sich jedoch auf dem neuen Gebiet durchsetzen und wurde recht erfolgreich. Ebenso sollten sich Turnierschachspieler an die neue Realität anpassen... zumindest bis die Quarantäne endet