Warum übersieht man immer wieder die offensichtlichsten Züge?
In fast jeder Partie beweisen wir die Richtigkeit des alten Sprichworts "Irren ist menschlich".
Es ist aber ein Unterschied, ob man, wie Fabiano Caruana in der 6. Partie der Weltmeisterschaft eine 30 Züge lange Gewinnkombination nicht entdeckt, oder ob man ein Matt in 1 nicht sieht! Und damit sind wir schon beim Thema: Meinem fürchterlichsten Fehler aller Zeiten:
Wie kann einem Großmeister nur so ein Fehler unterlaufen? War ich in diesem Turnier in einer schlechten Form? Eigentlich ganz im Gegenteil! Es war ein gutes Turnier für mich. Ich hatte mich vor vielen starken GMs für das Finale aus meiner Gruppe qualifiziert und im ersten KO-Duell hatte ich GM Etienne Bacrot eliminiert.
Ja, ich hatte nur ein paar Minuten auf meiner Uhr, als ich 46...Lh7 spielte, aber das ist keine gute Entschuldigung für solch einen schrecklichen Fehler. Der wahre Grund für meinen Fehler liegt woanders: Dies war die letzte Partie unseres Duells und ich stand unter Siegzwang. Ich hatte gesehen, dass Weiß mit Sf8-Sg6-Sf8 usw. ein Dauerschach droht und habe deshalb den Zug gespielt, der diese Bedrohung aufgehoben hat. Und alle, die denken, dass diese Erklärung keinen Sinn ergibt, sollten das folgende Video ansehen und den Test machen:
Habt Ihr den Test bestanden?
Die Moral der Geschichte ist, dass wir nur die Züge finden, nach denen wir suchen. Ich habe nach dem Zug gesucht, der das Dauerschach verhindert hat und ich habe ihn gefunden! Ich glaube, Vladimir Kramnik hat einen sehr ähnlichen psychologischen Fehler begangen, als ihm ein fast identischer Fehler unterlaufen ist:
Ich wette, dass Schwarz hauptsächlich an seine schönen Bauern auf dem Damenflügel dachte. "Ich muss nur noch die Damen tauschen und das Spiel ist vorbei!" dachte der Weltmeister wahrscheinlich und spielte deshalb 34...De3
Die nächste Partie ist ein weiteres Beispiel für diese fehlerhafte Logik.
Die Spieler hatten gerade erst den 40. Zug gespielt und Weiß hatte viel Zeit, um den einzigen Zug zu finden: 43. Kh3. Dieser Zug würde aber zu einem erzwungenen Remis durch Dauerschach gegen einen Gegner führen, dessen Rating 200 Punkte niedriger war. GM Tisdall fasste es in der Zeitschrift New In Chess so zusammen: "Nick benutzte deduktives Denken. Er wollte diese Partie gewinnen und musste deshalb das Dauerschach vermeiden."
Infolgedessen hat ein sehr starker Großmeister ein Schachmatt übersehen!
Zum Abschluss möchte ich Euch noch einen Fehler aus einer meiner eigenen Partien zeigen:
Obwohl ich noch ungefähr drei Minuten auf meiner Uhr hatte, übersah ich ein Matt in 3! Das ist aber nicht der lustigste Teil der Geschichte. Während ich über meinen 41. Zug nachdachte, bot GM Lev Psakhis allen eine Wette an, dass ich dieses Matt in 3 nicht finden würde. Ihr werdet erstaunt sein, aber niemand hat die Wette angenommen!
Der Grund dafür ist sehr einfach. Dies war ein Tiebreak-Spiel in einem großen KO-Turnier in Tilburg (Niederlande) und ich benötigte nur ein Remis, um meinen Gegner auszuschalten. Wie jeder erfahrene Spieler weiß, kann eine Dame alleine den König eines Gegners nicht Mattsetzen, wenn dem König nicht von eigenen Figuren die Fluchtfelder genommen werden. Ich erinnerte mich daran, dass ich, als ich 41...exd4 sah, meinen Gegner mit einer einsamen Dame zurücklassen wollte und mein König viele Züge hatte. Nach etwas anderem habe ich gar nicht gesucht und deshalb den Läufer geschlagen!
Die Moral dieser Geschichte ist sehr einfach: Wenn Ihr über Euren nächsten Zug nachdenkt, habt Ihr wahrscheinlich bereits ein "Szenario" der Ereignisse, die auf dem Brett stattfinden werden, im Kopf. Basierend auf diesem Szenario erstellt Ihr Eure Pläne und Ziele. Also solltet Ihr vor jedem Zug so denken, als wenn Ihr gerade ans Brett gekommen wärt und die Stellung zum ersten Mal begutachtet.
Habt Ihr eigentlich den Gorilla gesehen?