Was ist gute und schlechte Etikette im Schach?
"Jedes russische Schulkind weiß..." ist ein bekanntes Klischee, das besagt, dass eine bestimmte Stellung oder ein bestimmtes Konzept ein wesentlicher Bestandteil einer klassischen Schachausbildung ist. Ein guter Freund von mir, GM Alex Yermolinsky, verwendete dieses Klischee sogar als Titel seiner wöchentlichen Show. Persönlich verwende ich dieses Klischee nicht oft, aber Ihr könnt Euch sicher vorstellen, was ich gesagt habe, als ich erfuhr, dass einer meiner Schüler, der ein USCF Rating von fast 1800 hatte, die Philidor Stellung in einem Turmendspiel nicht kannte.
Heute möchte ich den Satz "Jedes russische Schulkind weiß..." aus einer anderen Perspektive beleuchten. Als Kind las ich das berühmte Buch von Vladimir Mayakovsky:: "What Is Good And What Is Bad (Was ist Gut und was ist Schlecht)." Wie Millionen anderer sowjetischer Kinder habe ich aus diesem Buch die Grundkonzepte von gutem und schlechtem Verhalten gelernt. Wikipedia behauptet, dass "jede Sprache ein Wort hat, das Gut im Sinne von" die richtige oder wünschenswerte Qualität "und Schlecht im Sinne von" unerwünscht" ausdrückt. Ein Gefühl des moralischen Urteils und eine Unterscheidung zwischen "Richtig und Falsch, Gut und Schlecht" sind kulturübergreifende Eigenschaften."
Daher bin ich mir sicher, dass auch Ihr in Eurer Kindheit ein Buch hattet, das eine Art moralischer Kompass war, der Euch durch Euer Leben führte. Als ich anfing Schach zu spielen, lernte ich schnell bestimmte Regeln der Schachethik, die für Schachspieler "was Gut und was Schlecht ist" waren. Wenn wir beispielsweise ein Turnier spielten, stand auf dem Partieformular oft der folgende Text: "Es gibt für einen Schachspieler keine größere Schande, als sich ohne sehr schwerwiegenden Grund von einem Turnier zurückzuziehen."
Im Laufe des Lebens bewertet die moderne Gesellschaft viele klassische Regeln neu und was vor einiger Zeit noch Gut war, wird auf einmal Schlecht und umgekehrt. Davon ist natürlich auch Schach nicht ausgenommen. Wenn Ihr Euch ein großes Open in den USA anseht, werdet Ihr feststellen, dass Dutzende von Teilnehmern in der letzten Runde nicht antreten und sich zurückziehen, nur weil sie keine Chance mehr haben, einen Preis zu gewinnen. Ich beschuldige jetzt aber niemanden, sondern nenne nur Fakten. Immerhin erwähnte das Partieformular aus meiner Kindheit ja "einen sehr schwerwiegenden Grund". Vielleicht ist das ja ein sehr schwerwiegender Grund?
Sehen wir uns jetzt diese aktuelle Partie an:
Die beiden Super-Großmeister spielten tatsächlich 32 Züge lang ein Endspiel mit König und Turm gegen König und Turm. Versteht mich nicht falsch. Ich sehe dieses Endspiel mehr oder weniger regelmäßig. Immer wenn ich mir ein großes Schulschachturnier besuche, sehe ich in der U1000 Gruppe solche Endspiele. Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass es Tarrasch gegen Rubinstein oder Geller gegen Keres gespielt hätten. Ich wette, Grischuk und Giri hätten am Ende mit König gegen König weitergespielt, wenn nicht diese blöde Software gewesen wäre, die die Partie aufgrund unzureichenden Materials automatisch beendete. Es ist eine Schande, denn es hätte den alten Witz von GM Eduard Gufeld bestätigt. Er beobachtete zwei Kinder beim Bullet, was damals eine ganz neue Art der Zeitkontrolle war. Angewidert von der Qualität der Partie fragte der Großmeister: "Warum stellt ihr nicht einfach zwei Könige auf das Brett und zieht sie so lange hin und her, bis einer von euch auf Zeit verliert?"
Ich habe übrigens nicht die Absicht, GM Alexander Grischuk zu kritisieren. Warum auch? Er ist ja nicht der einzige der das versucht. Sehen wir uns zum Beispiel die folgende Partie an:
Sein Gegner, ein weiterer Supergroßmeister, spielte ein Endspiel mit einem Turm gegen zwei Türme und 3 Bauern weiter und gab nicht auf. Viele "Old School" Schachspieler würden ein solches Verhalten als beleidigend betrachten. GM Karjakin gelang es jedoch, die Partie zu retten und gewann dadurch sogar einen großen Immobilienpreis.
Wie Ihr sehen könnt, ist "was Gut und was Schlecht ist" für Schachspieler heutzutage völlig anders als in vergangenen Ären. 1990 spielte ich ein Blitz-Turnier im berühmten Moskauer Hotel Kosmos. Die in Deutschen Mark ausgelobten Preise waren für sowjetische Verhältnisse recht hoch. In der letzten Runde der Vorgruppe spielte ich gegen Mikhail Tal. Da ich einen halben Punkt Rückstand hatte, musste ich die Partie gewinnen, um mich für die Endphase zu qualifizieren. Ich spielte mit Weiß und schaffte es auf wundersame Weise, den Magier mit meiner englischen Lieblingseröffnung zu überspielen. Am Ende war es ein völlig gewonnenes Endspiel für mich, da ich meinen g-Bauern zu einer Dame unwandeln konnte. Ich hatte ungefähr 30 Sekunden auf meiner Uhr und da ich viel jünger und schneller als heute war, war das Ergebnis der Partie ziemlich klar. Also schnappte ich mir den g7-Bauern, um ihn umzuwandeln. An das, was als Nächstes geschah, erinnere ich mich noch, als wäre es erst gestern gewesen. Da es im Hotel aufgrund einer großen Menschenmenge sehr heiß war und ich am Ende der Partie auch sehr nervös war, (kommt schon; wäret Ihr nicht nervös, wenn Ihr Mikhail Tal schlagen könntet?) waren meine Hände sehr verschwitzt. Als ich den g7-Bauern fasste, rutschte mir der tückische Bauer durch meine Finger. Ich packte den Bauern wieder, aber er rutschte mir immer wieder durch die Finger. Ich habe dreimal vergeblich versucht, den Bauern umzuwandeln und meine Sekunden verstrichen! Dann beschloss ich, beide Hände zu benutzen, um endlich den dummen Bauern auf die achte Reihe zu bekommen. Als ich einen weiteren Versuch unternehmen wollte, mir eine neue Dame zu verschaffen und nach diesem bösen g7-Bauern griff, packte Tal plötzlich meine Hand und schüttelte sie. Ich habe nicht einmal sofort gemerkt, dass er aufgegeben hat. Wie viele der modernen Elite-Spieler würden aufgeben, wenn die Sekunden des kämpfenden Gegners dahinschmelzen würden? Das ist aber nicht das einzige Beispiel für Tals edles Verhalten. In den 1970er Jahren spielte er bei einem Blitzturnier gegen die Damen-Weltmeisterin GM Nona Gaprindashvili. Als Gaprindashvili in Zeitnot geriet, "vergaß" Tal ein paar Mal, die Uhr zu drücken, nachdem er seinen Zug gemacht hatte. Als Gaprindashvili Tals "Fehler" bemerkte, flüsterte sie: "Wenn Sie das noch einmal tun, werde ich sofort aufgeben!"
Aber vielleicht war das nur Tal. Immerhin hörte ich viele Leute, die ihn "einen Außerirdischen" nannten, weil er so anders war als andere Menschen. Inzwischen sehen wir zahlreiche Beispiele, in denen moderne Super-Großmeister "tote" Endspiele gespielt haben, um den Gegner über die Zeit zu ziehen. In einigen Fällen mit Erfolg!
Also, sollte man diese Art von Stellungen spielen und versuchen, seinen Gegner über die Zeit zu ziehen, oder nicht? Ich weiß es nicht. Wir leben in einer turbulenten Zeit, in der sich Moral und Ethik ständig ändern. Was vor 30-40 Jahren unangemessen war, ist heute Mainstream. Machen wir also eine kleine Umfrage: Hatten die Spieler der alten Schule recht oder wissen es die modernen Elite-Spieler besser? Schreibt Eure Meinung einfach ins Kommentarfeld!