Heutzutage, da die Eröffnungstheorie exponentiell wächst, ist es sehr schwierig, eine Eröffnungsneuerung zu finden.
Jeder neue Zug, den man in Betracht zieht, wurde bereits von jemandem gespielt, in einer Veröffentlichung analysiert und ist bereits in jemandes Computer gespeichert!
Wir brauchen also einen neuen Weg um eine Neuerung zu finden, die unsere Gegner in Erstaunen versetzt! Manchmal kann uns dabei Lady Luck helfen, wie in der folgenden Partie:
Laut Anand, analysierte er bei seiner Vorbereitung die Stellung nach 21.e5 und berührte dabei zufällig seine Computermaus und schob dadurch versehentlich den Bauern von c6 ein Feld nach vorne. Anand war gerade dabei, seinen Fehler zu korrigieren, als er plötzlich bemerkte er, dass der Computer den Zug wirklich mochte! Und wie man so schön sagt: Der Rest ist Geschichte.
Trotz des großen Erfolges von Anands Neuerung würde ich diese Methode, eine Eröffnungsneuerung zu finden, nicht empfehlen. Wenn man anfängt, den Computer jeden beliebigen Zug überprüfen zu lassen, kann man zwar tatsächlich eine bahnbrechende Neuerung entdecken, aber diese Vorgehensweise ähnelt doch sehr dem Theorem der endlos tippenden Affen.
In seinem ausgezeichneten Buch "200 Open Games (200 offene Partien)" analysiert David Bronstein die folgende Miniatur. Versucht mal, die nette Combo des Großmeisters zu finden.
Mir gefällt, was Bronstein hierzu schreibt:
Was macht diese Partie so bemerkenswert? Wahrscheinlich der Zug 4.Da4. In allen Büchern wird nur ein Zug empfohlen: 4.Dd1. Aber kann eine so mächtige Figur wie die Dame wirklich eine so begrenzte Bewegungsfreiheit haben? Sobald ich eine Gelegenheit habe, werde ich versuchen, einen harmonischen Angriffsplan auszuarbeiten, zum Beispiel mit einem Zug, der auf den ersten Blick so unlogisch erscheint, wie 4. Dd2. Man muss sich nur all der Plus- und Minuspunkte dieser Idee bewusst sein, und alles wird gut werden.
Beachtet, dass Bronstein nicht über den Eröffnungsvorteil oder bestimmte Varianten schreibt. Für ihn war der kreative Prozess, interessante und ungewöhnliche Ideen zu finden, wichtiger, als die objektive Bewertung solcher Ideen! Es sieht so aus, als ob Bronstein in der Tat versucht, in einem scheinbar unlogischen Zug versteckte Ideen zu finden:
Diese wirklich seltsame Partie habe ich in der Datenbank gefunden. Beide Großmeister waren für ihr Kampfschach bekannt, sodass ein Remis bereits nach acht Zügen unwahrscheinlich erscheint. Da es ein Mannschaftskampf war, bestanden aber vielleicht die Kapitäne der Teams darauf, dass die Spieler diesen Wahnsinn stoppten.
Vor 50 Jahren war übrigens die einzige Öffnung, bei der der frühe g2-g4-Vorstoß von der offiziellen Eröffnungstheorie erlaubt wurde, der Keres-Angriff in der sizilianischen Verteidigung. Hier ist eine weitere Bronstein-Partie:
Die Trainer erklärten damals ihren Schülern, dass der Zug 6.g4! im Keres-Angriff die große Ausnahme ist und nirgendwo sonst gespielt wird. Anfang der 1990er Jahre begannen dann die jungen Großmeister Shirov und Shabalov, den g4-Zug in einer angeblich ruhigen Variante des Halbslawischen zu spielen.
Es war dann GM Krasenkow, der g4 schon im vierten Zug spielte und in seinen Anmerkungen schrieb, dass man diesen Zug in eigentlich jeder Stellung spielen kann, wenn man ein Feuerwerk zünden will.
Und so fingen die Leute an, g2-g4 in allen Eröffnungen zu spielen! Nicht einmal die konservative Philidor-Verteidigung oder das klassische Nimzo-Indisch wurden davor verschont!
Erst vor kurzem sprang sogar der Weltmeister auf diesen Zug auf:
Und natürlich fand auch Bronstein's alte Idee 2.g4!? ihre Anhänger!
Was müsst ihr also machen, um eine Neuerung in einer bekannten Eröffnung zu finden? Seht euch den unlogischten Zug an und versucht einen versteckten Vorteil zu entdecken. Oder ihr spielt einfach g2-g4!