Chess.com: 'Niemann hat wahrscheinlich in mehr als 100 Online-Partien betrogen'
In einem 72-seitigen Bericht, der am Dienstag veröffentlicht wurde, erklärt Chess.com, dass Großmeister Hans Niemann "wahrscheinlich in mehr als 100 Online-Schachpartien, darunter mehrere Preisgeld-Events, betrogen hat". Chess.com stellt auch fest, dass Niemann "der am schnellsten aufsteigende Spitzenspieler im klassischen OTB-Schach in der modernen Geschichte ist", fand aber keine eindeutigen Beweise dafür, dass Niemann auch bei OTB-Partien betrogen hat.
Er heißt der "Hans Niemann Report" (hier einsehbar) und umfasst 20 Seiten Text und einschließlich aller Anhänge und Beweise insgesamt 72 Seiten. Darin geben Chess.com und sein Fairplay-Team Antworten auf Fragen wie, warum Niemann aus der Global Chess Championship ausgeschlossen wurde, inwieweit er auf der Seite betrogen hat und was man über seine Over-the-Board-Partien sagen kann.
Zunächst erklärt Chess.com seine Entscheidung, Niemann am 5. September, einen Tag nachdem er Magnus Carlsen beim Sinquefield Cup besiegt hatte, von der Global Chess Championship auszuschließen. Nachdem klargestellt wurde, dass es keine Kommunikation zwischen Chess.com und Carlsen gegeben hatte, wurde die Entscheidung wie folgt dargelegt:
Diese Entscheidung basiert auf mehreren Faktoren. Erstens, wie in diesem Bericht beschrieben, gab Hans zu, nachdem unsere Betrugserkennungssoftware und unser Team verdächtige Partien aufgedeckt hatten, bis ins Jahr 2020 bei Schachpartien auf unserer Seite betrogen zu haben. Zweitens hatten wir Zweifel an Niemanns Spiel gegen Magnus beim Sinquefield Cup, die durch das öffentliche Interesse des Events noch verstärkt wurden. Drittens hatten wir, wie auch andere Personen in der Schachgemeinschaft, Bedenken wegen des rapiden, unbeständigen Anstiegs von Niemanns Rating. Schließlich standen wir zu einem unglücklichen Zeitpunkt vor einer kritischen Entscheidung: Könnten wir die Integrität der CGC, die einige Tage nach dem Sinquefield Cup am 14. September 2022 beginnen sollte, für alle Teilnehmer sicherstellen, wenn Hans daran teilnehmen würde? Nach ausführlichen Überlegungen glaubten wir, die Antwort sei nein. Bei der CGC spielen 64 Teilnehmer um ein Preisgeld von 1 Million US-Dollar. Unter den gegebenen Umständen und basierend auf den Informationen, die wir damals hatten, glaubten wir nicht, dass wir den Teilnehmern und Top-Spielern vertrauensvoll versichern könnten, dass dieser Spieler, der bereits gestanden hatte, in der Vergangenheit betrogen zu haben und dessen kometenhafter Aufstieg weitere Verdächtigungen ausgelöst hatte, die Integrität unserer Veranstaltung nicht untergraben würde.
Fans fragen sich vielleicht, warum Chess.com sich entschieden hat, so viel über Niemann und die Kommunikation mit ihm preiszugeben und nicht über andere Spieler. Das lag an dem Interview, das Niemann ein paar Tage nach dem Sieg über Carlsen in St. Louis gegeben hatte:
"Es muss betont werden, dass wir unsere Besorgnis über die Fairplay-Verstöße von Hans nie öffentlich diskutieren wollten. Es war immer unser Grundsatz, Kontoschließungen für Titelträger privat zu behandeln und das haben wir in der Vergangenheit auch bei Hans getan. Auch sein kürzlicher Ausschluss von Chess.com und der CGC wurde ihm privat mitgeteilt. Er hat sich jedoch dafür entschieden, diese Mitteilungen öffentlich zu machen. Aus diesem Grund fühlen wir uns verpflichtet, die Grundlage für unsere Entscheidungen öffentlich mit der Community zu teilen."
Ein wichtiger Grund für diesen Bericht war, was Chess.com bereits am 9. September getwittert hatte, dass es Informationen gab, die seinen Aussagen über "das Ausmaß und der Schwere seines Betrugs auf Chess.com" widersprachen. Chess.com geht jetzt viel detaillierter darauf ein und sagt, dass es...
...den Anschein hat, dass Hans bei Chess.com-Preisgeldturnieren mehrfach betrogen hat. Also nicht nur bei Titled Tuesday-Event, bei dem Hans im Alter von 12 Jahren betrogen hatte, sondern auch bei der Speed Chess Championship und der PRO Chess League. Wir haben auch Beweise dafür, dass er in Matches mit gewerteten Partien auf Chess.com gegen starke und bekannte Persönlichkeiten in der Schachgemeinschaft betrogen und einige dieser Partien online gestreamt hat.
Laut Chess.com hat Niemann wahrscheinlich in mehr als 100 Online-Schachpartien betrogen. Darunter sind Preisgeld-Events und Partien, die er gestreamt hat. Hier ist eine Tabelle, die die Daten für den Zeitraum Juli 2015 bis August 2020 zeigt.
Ken Regan, ein unabhängiger Experte auf dem Gebiet der Betrugserkennung im Schach, stimmte Chess.com zu und auch er glaubt, dass Niemann in diesen Partien geschummelt hat.
Während Chess.com zugibt, dass deren Tools zur Betrugserkennung speziell für Online-Schach mit kürzeren Bedenkzeiten entwickelt wurden, machen sie einige Kommentare zu Niemanns OTB-Spiel und stellen fest, dass "seine Ergebnisse statistisch außergewöhnlich sind".
Chess.com weist darauf hin, dass Niemann der am schnellsten aufsteigende Spitzenspieler im klassischen OTB-Schach in der modernen Geschichte ist. Im Vergleich zu anderen aufstrebenden Stars seiner Generation wie Alireza Firouzja, Vincent Keymer und Arjun Erigaisi (aber auch im Vergleich zu Bobby Fischer), liegt Niemann in Sachen Ratingsteigerung weit vor diesen Spielern, obwohl er erst seit kurzem auf diesem Level spielt. Niemann hat im Vergleich zu seinen Konkurrenten und anderen herausragenden Spielern die schnellste und größte Steigerung seiner Elo, wenn man alle bekannten klassischen OTB-Partien berücksichtigt, die im Alter von 11 bis 19 Jahren gespielt wurden."
Chess.com weist auch darauf hin, dass Niemann von den 13 Spielern, die jünger als 25 Jahre alt sind und derzeit zu den Top 50 der Welt gehören, der einzige ist, der erst mit 17 Jahren Großmeister wurde.
Als aktiver Spieler im Alter von 15, 16 und 17 Jahren (vor der Pandemie) hatte Hans Ratings von 2313, 2460 bzw. 2465. Die gängige Meinung ist, dass es unwahrscheinlich ist, dass man das höchste Schachlevel erreichen kann, wenn man mit 14 Jahren noch kein Großmeister ist. Auch wenn diese Aussage entmutigend erscheinen mag, hat sie sich im modernen Schach bestätigt. Größen wie Fischer, Kasparov, Carlsen und fast alle modernen Großmeister, die sich in den Top 5 der Welt etabliert haben, waren bereits im Alter von 15 Jahren herausragende Großmeister.
Chess.com analysierte auch eine Auswahl von Niemanns jüngsten OTB-Partien, konnte aber einschließlich der Partie beim Sinquefield Cup gegen Carlsen keine konkreten Beweise dafür finden, dass er betrogen hat. Chess.com merkt aber an, dass diese Partie und Niemanns anschließendes Verhalten und seine Erklärungen bizarr sind."
Abschließend weist Chess.com darauf hin, dass sie ihre Ergebnisse mit der FIDE geteilt haben und bei allen Untersuchungen oder Anfragen kooperieren werden. Vor einigen Tagen kündigte die FIDE Pläne zur Bildung eines Untersuchungsausschusses zu dieser Angelegenheit an.
GM David Smerdon, ein Verhaltensökonom an der University of Queensland, kommentierte auf Twitter:
Der Bericht ist gut. Es hat zwar etwas gedauert, aber andererseits ist es großartig, dass Chess.com jetzt mehr Details über sein Betrug-Erkennungssystem und den menschlichen Prozess hinter den Erkennungs- und Ausschlussrichtlinien und ihre breitere Philosophie in Bezug auf Betrug offengelegt hat.
Leider sind die Ergebnisse der Analyse von Chess.com aber nicht das, was die Schachwelt hören wollte (was jedoch nicht die Schuld von Chess.com ist), denn es bedeutet, dass wir wahrscheinlich nie erfahren werden, ob Hans Niemann OTB betrogen hat. Hier ist eine superkurze Zusammenfassung:
1. Hans Niemann hat Online mehr betrogen, als wir geahnt hatten. Auch im Alter von 17 Jahren und bei Preisgeld-Events.
2. Es gibt keinen Beweis dafür, dass er beim Sinquefield Cup betrogen hat.
3. Der Anstieg von Hans Niemanns Elo im OTB-Schach ist sehr verdächtig, aber auch hier gibt es nur Indizien und keine konkreten Beweise für Betrug.
Leider verschiebt der Chess.com-Bericht die Wahrscheinlichkeit, dass Hans Niemann OTB betrogen hat, in Richtung 50 %. Egal, welche Überzeugungen jemand vorher hatte (ich und andere sind von einer Wahrscheinlichkeit von 10-20 % ausgegangen, während andere mit bis zu über 80 % davon überzeugt waren).
Welche neuen Informationen könnten in Zukunft den unwahrscheinlichen Fall einer Lösung herbeiführen? Ich sehe zwei Möglichkeiten:
1. Hans gesteht ODER es werden konkrete Beweise für einen OTB-Betrug seinerseits gefunden
2. Hans setzt seine Entwicklung in Richtung 2750+ in Superturnieren mit extrem strengen Anti-Betrugs-Vorkehrungen fort.
Da beide Fälle unwahrscheinlich sind, werden wir wahrscheinlich keine Lösung bekommen. Hans Niemann wird weiterhin unter einer Wolke spielen, Magnus wird sich nicht bestätigt fühlen und die Organisatoren stehen vor einem Einladungsdilemma. Kein gutes Ergebnis für das Schach, aber andererseits ist es sehr gut, dass das Problem des Betrugs im Rampenlicht steht und große Schachorganisationen bereit zu sein scheinen, zusammenzuarbeiten, um das Problem zu beheben.🤷♂️
The report is good. It didn’t need to be that long for the HN case, but on the other hand it’s great that CC has publicly laid out more details about its cheat detection system, the human process behind detection/banning policies, and their broader philosophy towards cheating. 1/
— David Smerdon (@dsmerdon) October 5, 2022
Chessdotcom's report is marketing.
— Jonathan Rowson (@Jonathan_Rowson) October 5, 2022
1. It's 20 pages, not 72.
2. No evidence of OTB cheating at all, and their attempt to whip it up is embarrassing.
3. It challenges Hans's version of prior cheating, but mostly w' online blitz games in 2020, and reasonable doubt.#chessdrama https://t.co/Ehc3vuM0Iu
Highly unlikely that there would be concrete evidence for OTB cheating but I would certainly feel very uncomfortable playing someone in an OTB tournament knowing these numbers
— Kevin Goh Wei Ming (@kevingohwm) October 5, 2022