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Ding gewinnt eine chaotische 12. Partie und gleicht die WM aus
Der Südtiroler Gerhard Bertagnolli fungiert bei dieser WM als Schiedsrichter. Foto: Maria Emelianova.

Ding gewinnt eine chaotische 12. Partie und gleicht die WM aus

JackRodgers
| 0 | Berichterstattung von einem Schach-Event

Nachdem er bereits am Rande einer Niederlage gestanden hatte, konnte Ding Liren die 12. Partie der FIDE Weltmeisterschaft 2023 gegen Ian Nepomniachtchi gewinnen und den Gesamtstand zum dritten Mal ausgleichen.

In seiner vorletzten Partie mit den weißen Steinen und dem verzweifelten Bedürfnis nach einem vollen Punkt schuf Ding einen taktischen Schlagabtausch, aber Nepomniachtchi drehte den Spieß um. Nur wenige Augenblicke davon entfernt, den Titel zu gewinnen, brach Nepomniachtchi aber dann völlig zusammen und erlaubte Ding, sich auf 6:6 zurückzukämpfen.

Die 13. Partie beginnt am Donnerstag, dem 27. April, um 11.00 Uhr.

So könnt Ihr bei der FIDE Weltmeisterschaft 2023 zusehen:
Wir übertragen alle Partien der FIDE Weltmeisterschaft 2023 mit Kommentaren von Steve Berger und interessanten Gästen wie Jan Gustafsson und Fiona Steil-Antoni auf Chess.com/TV, Twitch und YouTube. Die englischsprachige Übertragung findet Ihr auf https://www.youtube.com/@chesscomlive
Hier seht Ihr die Aufzeichnung der Übertragung der zwölften Partie:
Kommentatoren: Steve Berger und Fiona Steil-Antoni

In der Pressekonferenz nach der 11. Partie verkündete Ding, dass "noch alles passieren könnte", als er nach seinen Chancen gefragt wurde. Als die Spieler vor der 12. Runde ihre Plätze einnahmen und die Spannung einsetzte, war sofort klar, dass Schachfans auf der ganzen Welt mit einer Show verwöhnt werden würden.

Ian Nepomniachtchi. Foto: Maria Emelianova/Chess.com.

Ding kehrte in dieser Partie zu seinem Lieblingszug 1.d4 zurück und als er mit 2.Sf3 fortsetzte, sah es so aus, als würde der Chinese auf seine bewährte katalanische Eröffnung zurückgreifen. Ein System, das er in seiner 100-Partien-Serie ohne Niederlage von 2017 bis 2018 schon fast religiös verwendet hatte. Im dritten Zug gab es jedoch die erste Überraschung. Als Ding das Colle-System auf das Brett brachte, führte das bei Nepomniachtchi zu einem sehr überraschten Gesichtsausdruck. Später sagte er aber: "Nein, ich war nicht überrascht."

Die Eröffnung, die in den frühen 1900er Jahren von Edgard Colle populär gemacht wurde, wird und wurde im Spitzenschach eigentlich von niemanden, außer dem ehemaligen Weltmeister Vladimir Kramnik gespielt.

Wenige Momente, bevor das Colle System auf dem Brett erscheint. Foto: Maria Emelianova/Chess.com.

Obwohl diese Eröffnung oft dafür kritisiert wird, eine passive Version von Aufbauten zu sein, die dem Londoner System und den Stonewall-Angriff-Strukturen ähneln, war die Mehrheit der Zuschauer auf Chess.com der Meinung, dass die seltsame Eröffnungswahl Ding Gewinnchancen verschaffen würde.

Im sechsten Zug spielte Nepomniachtchi das interessante 6...Ld7´und behauptete später, dieser Zug sei Teil seiner Vorbereitung gewesen. Obwohl der Zug als Ungenauigkeit bewertet wurde, erwies er sich als schwierig zu bestrafen. Er half Ding jedoch, sein wichtigstes strategisches Ziel zu erreichen: eine dynamische, unausgewogene Stellung. Kommentator Robert Hess würde später prognostizieren, dass "die Richtung der Partie gut für Ding Liren ist und er einige Chancen bekommen wird".

"Ich war ziemlich glücklich, als ich den Zug 6...Ld7 auf dem Brett gesehen habe", sagte Ding nach der Partie. Foto: Maria Emelianova/Chess.com.

Als Ding die strategische Entscheidung traf, Schwarz einen Doppelbauern auf der f-Linie zu verpassen und eine offene g-Linie in Kauf zu nehmen, ergaben sich für beide Spieler Chancen. Für Nepomniachtchi war dies das zweite Mal in diesem Match und das dritte Mal bei einer Weltmeisterschaft, dass er freiwillige den Zug gxf6 freiwillig spielte.

Mit dieser Erfahrung im Schlepptau brachte Nepomniachtchi seine Figuren auf den Königsflügel und veranlasste seinen Gegner mit 19.Lc2 zum ersten Fehler der Partie. Dieser Zug würde eine Abwärtsspirale auslösen, die Ding bald mit der unmöglich scheinenden Aufgabe zurückließ, einen extrem starken Angriff abzuwehren. In den nächsten sieben Zügen spielte Nepomniachtchi perfekt und fand sogar den brillanten Zug 25...b5 der Dings gesamtes Gegenspiel auf einen Schlag unterband.

Ungefähr zu diesem Zeitpunkt erklärte Caruana bereits, dass es ein Ding der Unmöglichkeit wäre, von einem 2 Punkte Rückstand zurückzukommen, falls Ding diese Partie verlieren sollte und untermauerte diese These mit dem Fakt, dass dies seit 1972, als Bobby Fischer dieses Kunststück gegen Boris Spassky gelungen war, niemand mehr geschafft hat.

Wie eine in die Enge getriebene Katze mit neun Leben klammerte sich Ding jedoch verzweifelt an die Stellung und forderte Nepomniachtchis Rechenfähigkeiten auf Schritt und Tritt heraus.

Wie das Sprichwort sagt, "alte Gewohnheiten sterben nicht" spielte dann Nepomniachtchi in den entscheidenden Momenten viel zu schnell. Nach einer Reihe wilder Züge von beiden Spielern, bei denen der Bewertungsbalken wie ein Pendel hin und her schwankte, beruhigte sich der Balken schließlich und zeigte einen leichten Vorteil für Ding.

Ding hat sich nicht perfekt gespielt, aber ein Sieg ist ein Sieg. Foto: Maria Emelianova/Chess.com.

Viele konnten sich nicht erklären, wie sich Nepomniachtchi eine Stellung, die er absolut unter Kontrolle hatte, durch die Finger gleiten lassen konnte, aber Viswanathan Anand, der mehr Erfahrung als so gut wie jeder andere mit solchen Situationen hat, führte auf Twitter die Nerven als Ursache dafür an.

Nachdem er seine Gewinnstellung verspielt hatte, musste Nepomniachtchi nun um das Remis kämpfen und brach dabei völlig zusammen. Im 34. Zug stellte er einzügig einen Bauern ein und danach war die Stellung für Weiß einfach gewonnen. Der Weltranglisten-Zweite erklärte später, er habe zwar den besten Zug 34...f3 berechnet, aber "nicht genau gespielt" und stattdessen den Verlustzug gewählt.

Ding setzte sich nach dem Zug aufrecht in seinem Stuhl und streckte seine Hand aus, um a Tempo den besten Zug 35.Txe6 zu spielen. Als Nepomniachtchi dämmerte, dass er gerade seine Führung verspielt hatte, sank sein Kopf auf den Spieltisch und er vergrub ihn mit seinem rechten Arm.

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Foto: Maria Emelianova/Chess.com.

Völlig ungläubig verbrachte Nepomniachtchi die nächsten 17 Minuten damit, einen Zug zu finden, der die Sache noch einmal verkomplizieren würde, aber diesen Zug gab es einfach nicht und nur drei Züge später gab er auf. Ding zeigte während der gesamten Begegnung kaum eine Spur von Emotionen und zeigte er beim Verlassen des Spielsaals das erste kleine Lächeln.

Großmeister Rafael Leitao zeigt uns diese chaotische Partie.

Dies war eine seltsame Partie und ich möchte das technische Niveau, über das sicherlich noch viel gesprochen werden wird, nicht überkritisieren. Wie Fabiano Caruana während der Übertragung sagte, war es irgendwann kein Schach mehr, sondern nur noch eine Frage der Nerven.

Und für alle, die sich Analysen lieber als Video ansehen, hat "The Big Greek" schon wieder fleißig gearbeitet:

Bei der anschließenden Pressekonferenz behielten beide Spieler die Fassung und zeigten ihre Bereitschaft, bis zum Schluss zu kämpfen. 

Obwohl die Qualität des Schachspiels vielleicht nicht so hoch war wie bei einigen Weltmeisterschaften von Magnus Carlsen, lobte Caruana die Spieler für ihre Kreativität und sagte: "Ich habe seit der WM 2006 zwischen Topalov und Kramnik keine so abenteuerliche und spektakuläre Weltmeisterschaft gesehen."

Kreativ oder nicht und Spektakel hin oder her: Die Ausgangslage ist jetzt einfach. Es stehen noch zwei Partien auf dem Programm und jeder Spieler hat einmal davon Weiß. Nepo in der 13. Partie am Donnerstag und Ding in der letzten Partie, die nach einem Ruhetag am Freitag am Samstag gespielt werden wird.

Nepomniachtchi muss sich jetzt in nur wenigen Stunden von dem psychologischen Trauma erholen, das ihm die Niederlage in der heutigen Partie zugefügt hat, während Ding jetzt, da sich die Dynamik zu seinen Gunsten verändert hat, ruhig bleiben muss.

Das Schachduell hat sich in einer Nervenschlacht verwandelt. Foto: Maria Emelianova/Chess.com.

Wenn die Spieler morgen am Brett ankommen, wird die Frage im Großen und Ganzen dieselbe bleiben, wie zu Beginn dieser WM. Um sie mit den Worten von Mikhail Tal zu stellen: "Wer kann seinen Gegner in einen tiefen dunklen Wald führen, wo 2+2=5 ergibt und wo der Weg, der wieder hinausführt, nur breit genug für einen ist?"

Ab 11 Uhr finden wir es heraus.

Spätestens am Sonntag werden wir wissen, wer diesen Pokal gewonnen hat. Foto: Maria Emelianova/Chess.com.

Hier haben wir Euch noch eine Playlist mit YouTube-Videos über die WM zusammengestellt.

Der Spielstand nach 12 von 14 Partien

Name Elo 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 Punkte
Ding Liren 2788 ½ 0 ½ 1 0 1 0 ½ ½ ½ ½ 1 . . 6
Ian Nepomniachtchi 2795 ½ 1 ½ 0 1 0 1 ½ ½ ½ ½ 0 . . 6

Die FIDE-Weltmeisterschaft 2023 ist das wichtigste Schach-Event des Jahres und entscheidet, wer der nächste Weltmeister wird. Ian Nepomniachtchi und Ding Liren spielen ein Match, um zu entscheiden, wer Carlsens Thron übernimmt, nachdem der aktuelle Weltmeister seinen Titel niedergelegt hat. Das Match ist mit 2 Millionen Euro dotiert und wird über 14 klassische Partien gespielt. Der erste Spieler, der 7.5 Punkte erzielt, gewinnt.


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