FIDE WM Partie 1: Nepomniachtchi beeindruckt unter Druck und erzielt ein Remis
Die erste Partie der FIDE Weltmeisterschaft 2021 zwischen Weltmeister Magnus Carlsen und Herausforderer Ian Nepomniachtchi endete Remis. Nepomniachtchi hatte einen leichten Eröffnungsvorteil, geriet aber kurz darauf unter Druck und beeindruckte dann mit einem präzisen Endspiel. Die zweite Partie findet am Samstag um 13:30 Uhr statt.
Chess.com hat sich die Übertragungsrechte für die WM 2021 gesichert und wird jede Sekunde der Weltmeisterschaft in vielen Sprachen übertragen.
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- Und für die deutschsprachige Übertragung auf ChessTV, Twitch und YouTube haben wir IM Steve Berger und WIM Fiona Steil-Antoni engagiert. Die beiden werden Euch die Züge von Carlsen und Nepo genau erklären und Euch mit Hintergrundinformationen versorgen.
Mit einem ganzen Jahr Verspätung startete am Freitag endlich die Schachweltmeisterschaft im Dubai Exhibition Center. Carlsen und Nepomniachtchi, die Nummer eins und die Nummer fünf der Welt, spielen schon bei der U12-Weltmeisterschaft 2002 in Peniscola, Spanien, als kleine Jungen gegeneinander. Jetzt spielen sie erneut um einen Weltmeistertitel – und um ein Preisgeld von 2 Millionen Euro.
Der Norweger Carlsen, der den Titel 2013 holte und danach dreimal erfolgreich verteidigte, bestreitet sein fünftes Titelmatch. Der Russe Nepomniachtchi spielt zum ersten Mal bei einer Weltmeisterschaft, darf aber nicht unter russischer Flagge spielen.
Die Sperre der Welt-Anti-Doping-Agentur gegen Russland ist immer noch in Kraft und gilt für alle Athleten, die an Veranstaltungen auf Weltmeisterschaftsebene teilnehmen. Und dort ist weder die russische Flagge, noch die Hymne und nicht einmal der Name Russland erlaubt. Auf Nepomniachtchis Seite des Tisches war zuerst eine Flagge angebracht, die das Logo des Russischen Schachverbandes mit dem ausgeschriebenen Namen des Verbandes zeigte. In letzter Minute wurde sie aber durch eine Flagge ersetzt, auf der einfach nur "CFR" stand.
"Natürlich ist es nicht gut, ohne die normale Flagge und die übliche Hymne zu spielen, aber während einer Schachpartie denkt man dann doch mehr über die Züge nach", sagte Nepomniachtchi nach der Partie.
Die beiden Kontrahenten hatten vor dieser WM 14 klassische Partien gegeneinander gespielt und bekanntermaßen hat der Herausforderer vier davon gewonnen und nur eine verloren. In den kommenden drei Wochen werden sie weiter 14 Partien spielen. Das sind zwei mehr als wir es gewohnt sind. Die letzten acht Titelkämpfe zwischen 2006 und 2018 gingen über 12 Partien und danach war ein Schnellschach Playoff angesetzt.
Eine weitere, definitiv positive, Änderung ist der Zeitplan. Die FIDE hat die Partien so terminiert, dass es an den Wochenenden keine Ruhetage gibt. Die fixen Spieltage sind jetzt Freitag, Samstag, Sonntag, Dienstag und Mittwoch und das wird sicher für mehr Zuschauer sorgen.
Die größte Schachveranstaltung in Dubai seit der 27. Schacholympiade 1986 findet parallel zur Expo 2020 statt. 191 der 200 Pavillons repräsentieren die teilnehmenden Länder und viele davon haben Schach als Thema gewählt. Besonders im spanischen Pavillon ist Schach nicht zu übersehen.
Eine Schlüsselfigur der heimischen Schachszene konnte dieses Match in seiner Heimat leider nicht mehr erleben. Ali Abu Khalil, der als Gründungsvater des Schachspiels in den Vereinigten Arabischen Emiraten gilt, verstarb am Morgen vor der ersten Partie.
Carlsen hat gute Erinnerungen an Dubai. 2004 erzielte er dort seine dritte GM-Norm und 10 Jahre später gewann er in Dubai die Schnellschach- und Blitzweltmeisterschaften und war damit der erste Spieler, der den Titel in allen drei Formaten hielt. Zweiter bei dieser Blitzweltmeisterschaft würde übrigens... Nepomniachtchi.
Wie bei den letzten Titelkämpfen sind Spieler und Zuschauer durch eine Glaswand getrennt. Vor und nach der Partie scheint es eine ganz normale Glaswand zu sein, aber sobald im Zuschauerbereich das Licht ausgeht, fungiert sie als Einwegspiegel.
Etwas mehr als 300 Zuschauer kauften an diesem ersten Tag ein Ticket. Die Preise lagen zwischen 95 AED (26 US-Dollar) und 1900 AED (51 US-Dollar) für VIPs. Eine nette Geste der Veranstalter, die beim Dortmunder Superturnier seit vielen Jahren Standard ist, aber bei anderen Top-Events oft fehlt, ist, dass die Zuschauer mittels Sendern und Kopfhörern den lokalen Kommentaren von den Großmeistern Vishy Anand und Anna Muzychuk lauschen können.
Dass die erste Partie Remis endete, war keine große Überraschung. Auch bei den letzten fünf Weltmeisterschaften endete die erste Partie Remis (bei der letzten WM endeten ja sogar alle 12 Partien Remis). Blickt man jedoch auf alle 45 Weltmeisterschaften der Schachgeschichte, beginnend mit Steinitz-Zukertort im Jahr 1886, zurück, wäre ein Sieg das wahrscheinlichere Ergebnis gewesen: 26 Siege stehen 19 Remis gegenüber. Seit heute sind es allerdings 20 Remis.
Die Eröffnungsphase dieser ersten Partie in Dubai zeigte sofort die tiefe Vorbereitung der Spieler und ihren Einsatz der neuesten Technologie, einschließlich neuronaler Netzwerk-basierter Engines wie Stockfish und Leela Zero.
Nepomniachtchi, der mehr als 15 Minuten vor Beginn der Partie am Brett eintraf, eröffnete mit 1.e4 und spielte die Spanische Eröffnung (3.Lb5). Er hat auch Erfahrung mit der schottischen Eröffnung (3.d4), und wenn ein moderner Titelkampf diese Eröffnung sehen könnte—nachdem sie Garry Kasparov bei der WM 1990 gegen Anatoly Karpov wiederbelebt hatte—ist es dieser.
Carlsen entschied sich nicht für die gefürchtete Berliner Verteidigung, sondern spielte stattdessen 3...a6. Wie schon zweimal in seinem Match 2016 gegen Sergey Karjakin spielte der Weltmeister das Setup des Marshall-Gambits und wie Karjakin lehnte Nepomniachtchi das Gambit mit 8.h3 ab.
Das letzte Mal, dass das Gambit bei einer Weltmeisterschaft akzeptiert wurde, war bei Kramnik-Leko im Jahr 2004. 11 Jahre zuvor hatte es Garry Kasparov ebenfalls abgelehnt.
In 1993, @Kasparov63 set the renowned Soviet theoretician, Efim Geller, to work on the Marshall Attack. He reported back that White had no advantage in any line. 30 years later, that view apparently still prevails. #FIDEmatch2021
— Nigel Short (@nigelshortchess) November 26, 2021
Die erste große Überraschung kam von Carlsen im achten Zug. Das interessante 8…Sa5 ist der sechstbeliebteste Zug in der Stellung unter den Menschen, aber zufällig die erste Wahl von Leela.
Die Stellung nach 8...Sa5.
Es ähnelt dem Gajewski-Gambit (1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 a6 4.La4 Sf6 5.0-0 Le7 6.Te1 b5 7.Lb3 d6 8.c3 0-0 9.h3 Sa5 10.Lc2 d5), entwickelt vom polnischen Großmeister und langjährigen Sekundanten von Anand, Grzegorz Gajewski, der selbst twitterte:
How many Gajewski Gambits are there??!! #CarlsenNepo
— Grzegorz Gajewski (@GajuChess) November 26, 2021
Nepomniachtchi antwortete fast augenblicklich mit 9.Sxe5, was zeigte, dass sein Team auch auf diese Variante geschaut hatte. Seine Sekundanten sind Sergey Yanovsky (einer seiner ersten Trainer), Großmeister Vladimir Potkin und auch Karjakin, der sich die Eröffnungsfeier zusammen mit seinem guten Freund Teimour Radjabov angesehen hatte. Ob der aserbaidschanische Top-GM auch zu Nepomniachtchis Team gehört, ist nicht bekannt.
Über Carlsens Team ist offiziell nichts bekannt, obwohl es sehr wahrscheinlich ist, dass er erneut mit den Großmeistern Peter Heine Nielsen und Laurent Fressinet arbeitet. Als ein Reporter Carlsen bei der Pressekonferenz fragte, ob seine Eröffnungswahl darauf hindeutet, dass er auch einen Deutschen im Team hat (er bezog sich damit auf Jan Gustafsson, einen Kenner des Marshall-Gambits), gab Carlsen die beste Antwort des Tages: "Darüber kannst Du soviel spekulieren wie Du willst, das ist doch die Hälfte des Spaßes, wenn man bei einer Schach-WM als Journalist arbeitet!"
You may speculate as much as you want, that's half the fun of being a journalist at a world championship match!
—Magnus Carlsen
Laut einem deutschen Journalisten gehört auch Marcus Lindner, der Athletik Coach der Basketballer vom FC Bayern München zu Nepomniachtchis Team. Ein weiteres "Teammitglied" enthüllte Nepomniachtchi kürzlich in einem Interview mit der englischen Tageszeitung The Guardian. Wie schon vor dem Kandidatenturnier hatte er Zugang zum Supercomputer Zhores, der im Skolkovo Institute of Science and Technology in Moskau steht.
"Meinen Chancen kann das nicht schaden", sagte Nepomniachtchi dazu. "Und weil dieser spezielle Supercomputer eine riesige Rechenleistung hat, die normalerweise für wissenschaftliche Forschungen genutzt wird, ist er hoffentlich effektiver als andere."
Eine interessante Tatsache ist, dass der FIDE-Präsident Arkady Dvorkovich auch der Vorsitzende der Skolkovo-Stiftung ist. Wenn man dann noch bedenkt, dass PhosAgro der Hauptsponsor dieser WM ist, wird klar, dass Russland viele Möglichkeiten hatte, seinen Teilnehmern zu helfen.
Kommen wir zurück zur Partie, in der die Spieler bis zum 16. Zug, inklusive der seltsam aussehenden Sequenz 14.Kf1 Tfb8 relativ schnell spielten.
Der Zug des Tages: 14.Kf1!!
Dieser mysteriöse Zug wird von der Engine als brillant bezeichnet und zeugt von Nepos hochklassiger Eröffnungsvorbereitung. Dieser Zug wurde noch nie in einer Großmeisterpartie gespielt (obwohl er es im Fernschach schon gespielt wurde) und gilt deshalb als Eröffnungsneuerung! Laut Caruanas Erklärung in der Live-Übertragung hat er zwei Ideen: (1) den König im Vorgriff auf das Endspiel näher ins Zentrum zu bringen und (2) ist der Turm auf e1 nach 14. ...Dxe5 und 15.Dxb7 verteidigt.
Nach 16 Zügen hatte die Partie die von Menschen kartierten Gebiete verlassen. Großmeister Erwin l'Ami wies jedoch auf Twitter darauf hin, dass diese damenlose Mittelspielstellung ausgiebig von Engines getestet worden sei.
A ton of engines games have reached the current position. Most of them continued 17.Nc3 Nb4 18.Rac1 when White can try to make use of the extra pawn. #CarlsenNepo pic.twitter.com/X0ScYoiqR4
— Erwin l'Ami (@erwinlami) November 26, 2021
Auch wenn es kein echtes Marshall-Gambit war, war die Situation ähnlich: Ein Mehrbauer für Weiß mit Ausgleich für Schwarz in Form des Läuferpaares und Aktivität. Abgesehen davon hieß es auch: "Nepomniachtchi steht objektiv besser, aber Magnus kennt die Stellung", wie es GM unser Starkommentator Fabiano Caruana in der Chess.com-Übertragung bezeichnete.
"Ich war während der gesamten Partie ein wenig optimistisch", sagte Nepomniachtchi hinterher. "Das ist eine ziemlich merkwürdige Variante für Schwarz mit einer sehr dünnen Kompensation."
"Mir hat die Stellung, die ich bekommen habe, nicht besonders viel ausgemacht", konterte Carlsen. "Die Eröffnung, die ich gespielt habe, ist eine, die man sich nicht leisten kann, wenn man sich wegen eines Minusbauern Sorgen macht und sich mit dem Läuferpaar nicht wohlfühlt. Im Allgemeinen ist es aber so, dass Weiß etwas mehr Potenzial zum Manövrieren hat und Schwarz etwas mehr reagieren muss."
Schon bald verschwanden 2 Paare Leichtfiguren vom Brett, was aber auch eine Beschädigung der weißen Bauernstruktur am Königsflügel zur Folge hatte. Nepomniachtchi nannte seinen Zug 22.Lf4 "logisch", da er ein Läuferpaar tauscht. "Aber er funktioniert aus positionellen und taktischen Gründen nicht", bemerkte er. "Also im Grunde, nachdem ich diesen Abtausch stattfinden zugelassen hatte, konnte ich nie mehr als ein Remis erreichen."
Carlsen sagte zu dieser Phase der Partie: "Ich war ziemlich zufrieden mit dem Plan, den ich gefunden hatte: Das Läuferpaar aufzugeben, sieht zwar sehr kontraintuitiv aus, aber ich dachte, dass ich wegen seiner geschwächten Bauernstruktur und seiner relativ passiven Stellung immer noch eine vernünftige Kompensation haben würde. In der Partie wurde meine Meinung auch zumindest halb bestätigt."
Caruana war kein großer Fan von Nepomniachtchis etwas passiv wirkendem Zug 33.Sg2 und nach 33...b4 wurde klar, dass Carlsen in seinem Element war.
Die Stellung nach 33...b4.
Im Nachhinein gab Carlsen zu, dass er sich zu einem früheren Zeitpunkt in der Partie "ein wenig Sorgen" gemacht hatte, aber ab hier fühlte er sich besser: "Ich war glücklich, diese Idee mit 33…b4 gefunden zu haben, aber ich wusste, wenn er dort besonnen bleibt und seinen König herüberbringt, habe ich kein realitischen Chance, die Partie zu gewinnen."
Da die Eröffnungsphase so schnell gespielt wurde, kamen die Spieler nicht einmal annähernd in Zeitnot. In der letzten Phase der Partie, als er unter leichtem Druck stand, spielte Nepomniachtchi beeindruckend präzises Schach und konnte größere Probleme vermeiden.
Fünf Züge nach der ersten Zeitkontrolle erwzang Nepomniachtchi eine dreifache Stellungswiederholung und damit ein Remis. Kurz zuvor hatte Caruana noch über Nepomniachtchi gesagt: "Er ist nicht der Spielertyp, der in dieser Stellung ein Remis erzwingt". Allerdings hat der ehemalige Herausforderer hinzugefügt, dass bei WM-Partien andere Regeln gelten.
Nepomniachtchi hatte gemischte Gefühle, nachdem er seinen allerersten Titelkampf mit einem Remis mit Weiß begonnen hatte. "Normalerweise möchte man mit Weiß versuchen zu gewinnen, aber ein Remis ist auch ein Ergebnis. Es war, glaube ich, eine gute Partie von Magnus, also habe ich keine besonderen Gefühle."
Als ihn ein Journalist dazu drängte, etwas mehr über seine Gefühle zu erzählen, antwortete der russische Großmeister: "Ich fühle mich, wie man sich nach einem Remis mit Weiß eben so fühlt. Ich meine, ein Remis ist heutzutage ein ganz normales Ergebnis, aber natürlich will man mit Weiß mehr."
"Das Ergebnis war solide", sagte Carlsen. "Manchmal hatte ich das Gefühl, dass meine Stellung ein bisschen wackelig war. Es gibt sicherlich Dinge, die ich hätte besser machen können, aber insgesamt denke ich, dass das Remis ein faires Ergebnis ist."
Spielstand
Land | Name | Elo | 01 | 02 | 03 | 04 | 05 | 06 | 07 | 08 | 09 | 10 | 11 | 12 | 13 | 14 | Spielstand |
Magnus Carlsen | 2855 | ½ | . | . | . | . | . | . | . | . | . | . | . | . | . | ½ | |
Ian Nepomniachtchi | 2782 | ½ | . | . | . | . | . | . | . | . | . | . | . | . | . | ½ |
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FM Mike Klein hat an diesem Artikel mitgewirkt.
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