Kandidatenturnier, Runde 4: Nepomniachtchi besiegt Firouzja
Ian Nepomniachtchi hat beim Kandidatenturnier 2022 die alleinige Tabellenführung übernommen. Der Russe gewann gegen Alireza Firouzja, dessen vorbereitete Najdorf-Variante komplett nach hinten losging. Die anderen drei Partien der vierten Runde endeten Remis.
So könnt Ihr das Kandidatenturnier 2022 verfolgen
Wie übertragen das Kandidatenturnier 2022 täglich ab 15.00 Uhr. Die deutschsprachige Übertragung findet Ihr auf Chess.com/TV, unserem Twitch-Kanal und auf YouTube, die englischsprachige Übertragung auf YouTube.com/ChesscomLive.
Alle Partien des Kandidatenturniers findet Ihr hier auf unserer Live Events Plattform.
Hier seht Ihr die Aufzeichnung der Übertragung der vierten Runde mit unseren Kommentatoren Steve Berger und Vincent Keymer.
Der Palacio de Santoña hatte am Dienstag, bevor die vierte Runde begann, einige besondere Gäste. Um 9 Uhr morgens bekamen acht glückliche Kinder unter 12 Jahren die Chance, sich auf die gleichen Stühle und hinter die gleichen Schachbretter zu setzen, die von den Top-Großmeistern benutzt werden, um die ersten beiden Runden der Intercontinental ChessKid Candidates zu spielen, für die sie sich über Online-Qualifikationsturniere qualifiziert hatten. Das Turnier, das mit einer Bedenkzeit von 25+5 gespielt wird, läuft noch zwei Tage und kann hier verfolgt werden.
Auch heute stattete eine besondere Figur dem Turnier einen Besuch ab: Rey Enigma, der geheimnisvolle schwarz-weiß karierte Schachspieler, der seine Identität nicht preisgibt, aber definitiv ein starker Schachspieler ist. Rey trat bereits im spanischen Fernsehen auf und ist besonders auf Tiktok erfolgreich.
Die Identität von Magnus Carlsens nächsten Herausforderers ist ebenfalls noch nicht bekannt, aber die Chancen sind gestiegen, dass es derselbe Name wie beim letzten Mal sein wird – das heißt, wenn Carlsen bereit ist, erneut gegen ihn zu spielen. Nepomniachtchi besiegte heute Carlsens Wunschgegner Firouzja mit einer absolut dominanten Leistung.
Nepomniachtchi-Firouzja 1-0
Vor dieser Partie hatten die beiden Protagonisten dreimal gegeneinander gespielt und jeder konnte eine Partie gewinnen. Die letzte Partie spielten die beiden beim jüngsten Superbet-Turnier in Rumänien und Nepomniachtchi konnte die verrückte taktische Schlacht gewinnen. Heute bewies Nepo einmal mehr, dass er sich in messerscharfen Stellungen wie ein Fisch im Wasser fühlt.
Der Unterschied war jedoch, dass wir dieses Mal kaum einen echten Kampf zu sehen bekamen. Firouzja kam mit einer speziellen Vorbereitung im Najdorf ans Brett, die völlig nach hinten losging. Dem ersten unerwarteten Zug seines Gegners folgten zwei Ungenauigkeiten und im 23. Zug war er praktisch schon verloren.
Es drehte sich alles um diese hochtheoretische Stellung, in der Weiß einfach seinen Bauern nach f5 vorzieht und den schwarzen Läufer angreift. In Hunderten früher gespielter Partien setzte Schwarz mit 15...a4 fort und auch 15...Lxb3 wurde schon mehrmals von Großmeistern gespielt. Firouzja hingegen entschied sich für die dritte Option: 15...Lc4.
Nepomniachtchi gab später zu, dass ihn der Zug verwirrt hatte, aber trotzdem entschied er sich nach nur neun Minuten für die Antwort 16.Kb1
"Ich habe mich einfach für ein paar logische Züge entschieden", sagte er. "Offensichtlich war seine Idee, 17...d5 und nach 18.exd5 Sd6 zu spielen, also beschloss ich, den Plan einfach mit 18.f6 zu unterbrechen. Ich bin mir nicht sicher, ob es objektiv gut ist, aber ich dachte, ich gebe einfach einen Bauern und stelle meinen Springer nach g3 und dann sollte ich zumindest nicht schlechter stehen."
Großmeister Rafael Leitao dachte, dass 19.gxf6 wohl der Zug gewesen sei, den Firouzja nicht in seiner Vorbereitung hatte, denn in allen Fernschachpartien, in denen diese Stellung erreicht wurde, wurde immer der Zug 19.Sg3 gespielt.
Jetzt war Firouzja verwirrt. Er dachte eine halbe Stunde über seinen 20. Zug und eine weitere halbe Stunde über seinen 21. Zug nach. Den König auf h8 zu verstecken war gut, hätte aber ohne einen vorherigen Abtausch der weißfeldrigen Läufer mehr Sinn gemacht. Nepomniachtchi nannte 20...Lxf1 "ziemlich unglücklich", da Firouzja mit diesem Zug ein wichtiges Tempo verschenkte.
Firouzja spent almost half an hour on his 20th move and just when @DanielRensch was talking about 20...Bxf1, that move was played!#FIDECandidates pic.twitter.com/R6dWagtinG
— ChesscomLive (@ChesscomLive) June 21, 2022
Die Stellung von Schwarz war noch spielbar bis er seinen b-Bauern aufgab, oder, wie manche sagten, einstellte. Nepo: "Ich bin mir nicht sicher, ob er ihn eingestellt hat. Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass er ziemlich verzweifelt war."
Nepomniachtchis Gesichtsausdruck zeigte, dass er wusste, wie gut er steht. Oder wie Danny Rensch es ausdrückte: "Oh mein Gott, er macht ein finsteres Gesicht. Ich habe diesen Gesichtsausdruck schon einmal gesehen. Das ist der Ian, der denkt, dass sein Gegner gerade einen großen Fehler gemacht hat."
"That's a Ian who thinks his opponent just blundered big time," says 🎙️ @DanielRensch.
— ChesscomLive (@ChesscomLive) June 21, 2022
Nepo finds 24.Qxb4! and now has great chances to win his second game in the #FIDECandidates. pic.twitter.com/hnoOM91m7z
Für den russischen Großmeister gab es keinen Grund, nicht materialistisch zu sein. Er nahm den Bauern und ging davon und lies Firouzja mit beiden Händen an den Wangen am Brett sitzen. Es war der nervöseste Firouzja, den wir ihn bisher in Madrid gesehen haben.
Mit nur noch 22 Minuten Bedenkzeit für die nächsten 16 Züge unterlief Firouzja dann im 24. Zug gleich die nächste Ungenauigkeit. Nepomniachtchi, der eine Stunde mehr auf der Uhr hatte, brauchte nur fünf Minuten, um den starken Zwischenzug 25.Lb6 zu finden. Den Läufer auf diesem unwichtigen Feld zu platzieren hatte die einfache Idee, zu verhindern, dass die schwarze Dame nach c7 ziehen kann, wohin die nach 25. De1 gezogen wäre.
Firouzja brauchte fast sieben Minuten um sich für 25…Dd7 zu entscheiden und Nepo setzte seinen Angriff ohne nachzudenken mit 26.De1 fort: Bumms! Du bist dran!
Firouzja hatte dann noch etwas mehr als drei Minuten für 14 Züge und etwas später noch 35 Sekunden für seine letzten sieben Züge bis zur Zeitkontrolle. Er ist zwar ein guter Bullet-Spieler, aber das war einfach zu viel. Es war eine Partie auf drei Ergebnisse: Aufgeben, auf Zeit verlieren oder Schachmatt.
Nach dem Zug 35...f5 goss sich Nepomniachtchi in aller Seelenruhe noch etwas Tee ein, sah seinen Gegner an und beendete die Partie stilvoll mit einem Turmopfer auf h7.
Vor einem halben Jahr, nachdem er sein Match gegen Carlsen verloren hatte, befand sich Nepomniachtchi im Tal der Tränen. Heute ist er wieder der glücklichste Mensch der Welt.
"The Big Greek" Georgios Souleidis findet das auch:
Und natürlich hat sich auch Sam Shankland die Partie sehr genau angesehen und für Euch analysiert:
Rapport-Nakamura ½-½
Auch in dieser Partie spielte die Eröffnungsvorbereitung eine wichtige Rolle, denn Hikaru Nakamura konnte gegen Richard Rapport direkt aus der Eröffnung heraus ausgleichen. Nakamura wies aber direkt nach der Partie darauf hin, dass er bei der Chess.com Rapid Championship vor einigen Monaten eine ganz ähnliche Stellung gegen Fabiano Caruana verloren hat.
"Dann habe ich mir diese Sachen angesehen, die mir in der Partie eingefallen sind. Dieses 7...h6, 8...g5 und 9...Le6. Bis zum etwa 20. Zug war alles vorbereitet - es war nicht besonders schwierig", sagte Nakamura.
Rapport war mit der Partie überhaupt nicht zufrieden und sagte über die Eröffnung: "Noch so ein Desaster. Also kein echtes Desaster, aber ich habe mit Weiß absolut nichts erreicht."
Die Spieler erreichten schnell ein Endspiel, in dem Schwarz trotz des Doppelbauerns auf der c-Linie gut stand. Wenn alle Türme und Springer das Brett auf magische Weise verlassen hätten, hätte Weiß das Endspiel gewinnen können, aber das sollte niemals passieren.
Nakamura fand einen guten Aufbau am Königsflügel und nachdem er die Idee gefunden hatte seinen Bauern nach h3 zu pushen, um das Feld f3 für seinen Springer nutzen zu können, wurde die Stellung sogar ein wenig schärfer. Rapport, der sich irgendwann sogar ein bisschen schlechter fühlte, sorgte aber dafür, dass er nicht in Bedrängnis geriet, indem er seine Figuren aktiv hielt.
Nakamura hatte kurz das Gefühl, er hätte präziser spielen können und sein Gegner hatte kurzzeitig einige Chancen, sodass das Remis am Ende sicher gerechtfertigt war. Als sich die beiden Großmeister die Hände schüttelten, trug Nakamura bereits sein Sakko, da er schon eine Weile auf das Ende der Partie gewartet hatte.
Anmerkungen von GM Rafael Leitao.
Duda-Radjabov ½-½
Die ersten beiden Partien waren direkt nacheinander zu Ende gegangen und wenig später beendeten auch Jan-Krzysztof Duda und Teimour Radjabov ihren Arbeitstag. Es war erst die zweite klassische Partie zwischen den beiden und auch die erste, 2019 beim Tata Steel Masters in Wijk aan Zee, endete Remis.
Angesichts einer weiteren Nebenvariante (5.Lg5) der Anti-Berlin-Variante benötigte Radjabov in der Eröffnungsphase erneut mehr Zeit auf der Uhr als sein Gegner und schien leicht unter Druck zu stehen. Duda verlor jedoch den Vorteil, den die Engine für ihn beanspruchte und nachdem Schwarz 17...f5 gespielt hatte, ein Zug, den Duda "irgendwie vergessen hatte", stand Schwarz vollkommen in Ordnung. Es war eine gute Möglichkeit, eine Art Initiative zu behalten, bevor Weiß Zeit hat, seinen a-Bauern vorzuziehen.
Auf jeden Fall führte der Zug aber zu vielen Abtäuschen und einem sehr remislichen Doppelturm-Endspiel und im 41. Zug einigte sich die Spieler dann auch auf ein Remis.
"Das Wichtigste bei diesem Turnier ist eigentlich, nicht zu verlieren. Bislang habe ich das relativ gut geschafft", sagte Duda, der auch verriet, dass er in Madrid die Großmeister Grzegorz Gajewski und Kamil Miton als Sekundanten mit an Bord hat.
Anmerkungen von GM Rafael Leitao.
Ding-Caruana ½-½
Ding Liren war in klassischen Partien bisher immer ein schwieriger Gegner für Caruana. Die chinesische Nummer eins gewann fünf der bislang 13 Partien und der Amerikaner nur zwei. Das letzte Mal hatten sie beim letzten Kandidatenturnier gegeneinander gespielt und dieses "Mini-Match" ging ebenfalls mit 1,5-0,5 an Ding.
Caruanas Wahl der Ragozin-Variante, benannt nach dem sowjetischen Spieler Viacheslav Ragozin (1908-1962), war nicht so überraschend, da er sie letztes Jahr viele Male und auch dieses Jahr bei einem Titled Tuesday Turnier gespielt hatte. Der Zug 7...Sa5 kam aber unerwartet.
Dieser seltsam aussehende Springerzug war bisher nur einmal auf einem Brett und zweimal online gespielt worden.
Dings ruhige Antwort war solide, aber nicht besonders ehrgeizig und Schwarz schien nach der Eröffnung völlig in Ordnung zu sein. Aber war das Bauernopfer im 17. Zug wirklich nötig?
Da der Bauer auf b6 sowieso nicht wirklich hängt (b2 würde ebenfalls fallen), schlägt die Engine das einfache 17...Dd7, gefolgt von 18…Tfc8 vor, und alles ist in Ordnung.
Caruana bekam viel Aktivität mit Dame und Springer, was auch den weißen Turm eine Weile passiv hielt. Trotzdem blieb das Turmendspiel bis zum etwa 36. Zug etwas unangenehm, aber danach war die Arbeit für Caruana im Grunde genommen erledigt.
Der amerikanische Großmeister, der jetzt hinter Nepomniachtchi auf dem alleinigen zweiten Platz liegt, wird morgen mit Weiß gegen Rapport spielen und auf die Schützenhilfe seines Landsmanns Nakamura hoffen, der ebenfalls mit Weiß gegen Nepo spielen wird. Wir sind gespannt, was passiert!
Anmerkungen von GM Rafael Leitao.
Die Tabelle nach 4 von 14 Runden
Die Paarungen der fünften Runde
Runde 5 | 22. Juni 2022 | 15:00 Uhr |
Caruana | - | Rapport |
Radjabov | - | Ding |
Firouzja | - | Duda |
Nakamura | - | Nepomniachtchi |
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- Runde 3: 4 Remis