Kandidatenturnier, Runde 5: Nepomniachtchi überlebt Nakamuras Angriff
In der fünften Runde des Kandidatenturniers 2022 hatte Ian Nepomniachtchi gegen Hikaru Nakamura eine Zeit lang ernsthafte Probleme, konnte sich aber in ein Remis retten und damit seine Tabellenführung behaupten. Da auch Ding Liren seine Chance auf seinen ersten Sieg verpasste, endeten alle vier Partien Remis.
So könnt Ihr das Kandidatenturnier 2022 verfolgen
Wie übertragen das Kandidatenturnier 2022 täglich ab 15.00 Uhr. Die deutschsprachige Übertragung findet Ihr auf Chess.com/TV, unserem Twitch-Kanal und auf YouTube, die englischsprachige Übertragung auf YouTube.com/ChesscomLive.
Alle Partien des Kandidatenturniers findet Ihr hier auf unserer Live Events Plattform.
Hier seht Ihr die Aufzeichnung der Übertragung der fünften Runde mit unseren Kommentatoren Steve Berger und Vincent Keymer.
Viele Schachfans werden sich die Ergebnisse ansehen und sich denken: "Kein Sieg? Schon wieder?"
Hinter den vier Remis der fünften Runde verbarg sich aber viel Drama und großartiges Schach. Am Ende war Nepomniachtchi der große Gewinner, denn der Russe profitiert am meisten davon, dass sich am Tabellenstand nichts geändert hat.
Caruana-Rapport ½-½
Die kürzeste Partie der Runde war auch die spektakulärste. Caruana ging zwar mit einer 3:1-Bilanz gegen Rapport in dieses Duell, aber die jüngsten Ergebnisse sprachen für Rapport. Die beiden haben letzten Monat beim Superbet Rumänien 2022 Remis gespielt und im Jänner dieses Jahres in Wijk aan Zee hatte Rapport mit Schwarz gewonnen.
Bereits nach 5...a6 musste Caruana zum ersten Mal nachdenken. Das ist zwar eigentlich ein völlig normaler Zug, aber da ihn Rapport in dieser Stellung noch nie zuvor gespielt hatte, hat er den Amerikaner damit wohl überrascht. Bisher hatte er immer 5...Dc7 oder 5...Sf6 gespielt und in der ersten Runde gegen Duda entwickelte sich nach Dudas Zug 5.Lf4 eine andere Stellung.
Nach 10 Minuten spielte Caruana dann den aufregenden Zug 6.g4. Das ist eine Idee, die der estnische Top-Großmeister Paul Keres (1916-1975) gegen die Scheveningen-Variante der sizilianischen Verteidigung entwickelt hatte. Keres war damit seiner Zeit weit voraus, weil die Stärke dieses Bauernvorstoßes erst und vor allem in den 1980er und 90er Jahren wirklich geschätzt wurde. Später verlor diese spezielle Variante aber dann wieder an Beliebtheit.
Die Stellung nach Caruanas Zug 6.g4.
Man könnte sagen, dass die Taimanov-Variante, die nach dem russischen Großmeister Mark Taimanov (1926-2016) benannt ist, seit dieser Zeit das Scheveningen in Sachen Beliebtheit abgelöst hat. Eines der beliebtesten Abspiele in dieser Variante ist 6.Le3 Dc7 7.g4, aber Caruana hat seinen Bauern schon einen Zug früher gezogen. Das hatte übrigens auch schon Magnus Carlsen in einer Blitzpartie versucht.
Beim Zug 6.g4, der laut Caruana aggressivsten Option vorn Weiß, geht es darum, den schwarzen Springer auf f6 zu verjagen und gleichzeitig Raum zu gewinnen, aber Rapport spielte stattdessen seinen Königsspringer nach e7 – fast ohne nachzudenken, obwohl er es später behauptet hat, den Zug 6.g4 noch nie gesehen zu haben.
Rapport: "Meine sogenannte Kreativität kommt daher, dass ich schon im sechsten Zug aus der Theorie bin."
My so-called creativity comes from the fact that I am out of book by move six already.
—GM Richard Rapport
Mit 8.Sb3 ging Caruana einem möglichen Springertausch aus dem Weg und danach stellte sich die Frage, ob sich die schwarzen Springer nicht gegenseitig auf den Füßen stehen. Rapport löste dieses Problem mit 8...Sa5, was von der Engine durchaus genehmigt wurde, aber sein nächster Zug b3, schien Weiß dann ein wenig zu helfen.
12.Tf1 war subtil und mit 15.Td1 gab Caruana die Rochade auf und ging aufs Ganze.
Rapport erwies sich als der Aufgabe gewachsen, da er das direkteste Gegenspiel am Damenflügel anstrebte, basierend auf Druck entlang der Diagonale von a5-e1, kombiniert mit der Schwächung der weißen "Basis" auf b2. Das Brett brannte, aber die Engine zeigte die typische 0,00-Bewertung, denn sie hatte bereits Rapports Fortsetzung gesehen: Den Zug 19...e5, der eine Zugwiederholung erzwang.
Caruana sagte, er habe diesen Zug im Voraus übersehen: "Ich sah ihn, als er schnell 17...a3 gespielt hatte. Da wusste ich, dass er 19...e5 spielen würde, aber zu diesem Zeitpunkt sah ich keine Möglichkeit, diesen Zug und damit das Remis zu verhindern."
Eine Partie, die das Potenzial gehabt hätte, die Partie des Turniers zu werden, endete leider vorzeitig. Aber solange sie am Laufen war, hat sie wirklich Spaß gemacht.
"The Big Greek" Georgios Souleidis erklärt Euch die Partie in diesem Video:
Und Sam Shankland hat sie auch analysiert:
Im Nachhinein fand Caruana, dass er etwas zu riskant gespielt hatte. "Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich die volle Kontrolle über die Partie hatte, aber irgendwann hatte ich trotzdem das Gefühl, dass ich besser stehen könnte."
"Ich habe eigentlich mit jedem Ergebnis gerechnet, also war ein Remis eines davon", sagte Rapport nach der partie. Er argumentierte, dass, da beide Spieler im sechsten Zug mehr oder weniger auf sich allein gestellt waren, "in gewisser Weise eine längere Partie als es aussieht, gespielt wurde".
Firouzja-Duda ½-½
In seiner erst zweiten Weißpartie im Turnier suchte Firouzja heute eindeutig nach Blut. Er hatte Duda zuvor schon vier Mal geschlagen und noch nie gegen den Polen verloren.
Kein Wunder also, dass Duda solide spielte: Diesmal kein Najdorf, sondern die Russische Verteidigung. Der Weltcup-Sieger von 2021 antwortet etwa in jeder vierten Partie auf 1.e4 mit 1...e5 und wenn er das macht, folgt normalerweise immer 2...Sf6.
Duda fühlt sich mit dieser Eröffnung sichtlich wohl: Anfang dieses Jahres hatte er online Remis gegen den Weltmeister gespielt und die heutige Partie folgte 15 Züge lang einer seiner früheren Partien.
Danach sagte Duda, dass er deshalb überrascht war, dass sein Gegner "so viel Zeit verbrannte".
In dieser früheren Partie entschied sich Duda für eine ähnliche Aktion am Damenflügel wie heute. Offenbar mag die polnische Nummer eins die dynamischen Chancen für Schwarz, die sich daraus ergeben, und das aus gutem Grund.
Aufgrund einer netten Geometrie auf dem Brett hätte er im Grunde genommen eine ganze Reihe von Figuren und Bauern tauschen und mit dem Eilzug zur Remis-Station fahren können. Denn hätte Schwarz seinen "Job erledigt" und einmal mehr bewiesen, dass es Weiß sehr schwer hat, die russische Verteidigung zu überwinden.
Heute hat Firouzja nach der Partie nicht gelächelt und ziemlich enttäuscht ausgesehen. Zumindest darf er morgen aber schon wieder mit Weiß spielen. Gegen Caruana.
Anmerkungen von GM Rafael Leitao.
Nakamura-Nepomniachtchi ½-½
Für seine zehnte klassische Partie gegen Nepomniachtchi (jeder hat bisher zweimal gewonnen) hatte sich Nakamura besonders auf die russische Verteidigung vorbereitet. Dass sich der Tabellenführer mit Schwarz für eine solide Verteidigung entscheiden würde, war schließlich zu erwarten gewesen und dann hatte er ja bei der WM gegen Carlsen dreimal die russische Verteidigung gespielt.
"Offensichtlich hatte ich erwartet, dass Ian die russische Verteidigung spielt", sagte Nakamura. "Ich denke, ich habe auch alles bekommen, was ich wollte, obwohl ich nicht weiß, wie die objektive Bewertung ausfällt."
Während Carlsen in einer dieser Partien 8.Sbd2 gespielt hatte, entschied sich Nakamura für die alte Hauptvariante mit 8.c4, die er schon vor sechs Jahren gegen Varuzhan Akobian bei der US-Meisterschaft 2016 gespielt hatte.
Nepomniachtchi begann bei seinem 13. und 14. Zug nachzudenken und mit letzterem (14…Lf8) wich er von dieser Nakamura-Akobian-Partie ab. Es schien nicht viel los zu sein, aber dann machte der russische GM plötzlich mit 16...Dg4, gespielt nach nur 14 Sekunden, einen großen Fehler.
GM Robert Hess, der heute zum ersten Mal bei diesem Turnier für Chess.com als Kommentar am Start war, sagte: "Eine unerklärliche Entscheidungsfindung, aber das ist genau das, was ihn in der Vergangenheit geplagt hat."
Diesmal lag es aber nicht daran, dass er zu schnell gespielt hatte. Nun, er hat vielleicht zu schnell gespielt, aber der Hauptgrund für seinen Fehler war, dass er seine Vorbereitung durcheinandergebracht hatte. In einer anderen Variante funktioniert dieses De4-Dg4 tatsächlich, wie er hinterher erklärte: "Das sollte natürlich nicht passieren, aber ich habe einfach die Varianten ziemlich brutal verwechselt."
I clearly mixed up lines quite badly.
—GM Ian Nepomniachtchi
Nachdem Nakamura 18.h3 gespielt hatte, begann es Nepomniachtchi zu dämmern. Während er seinen Kopf in seiner linken Hand hielt und mit seiner rechten Hand einen weißen Bauern drehte, realisierte er, was er soeben getan hatte. Währenddessen war Caruana neben dem Brett zu sehen, der mit besonderem Interesse hinsah. Konnte er den Führenden heute einholen?
Very dramatic day. Nepo has clearly had one of his impulsive moments. If he doesn't survive, we get to see how he's learned to handle setbacks/moods ...
— Jonathan Tisdall (@GMjtis) June 22, 2022
Nakamura machte professionell weiter und wiederholte die Züge einmal, um näher an die Zeitkontrolle heranzukommen. Er war nämlich auf der Uhr etwas im Rückstand: 41 Minuten gegenüber einer Stunde für seinen Gegner im 22. Zug.
Der Engine gefiel die weiße Stellung sehr und Nepomniachtchi wusste auch selbst, dass er heute entkommen war. Er sagte: "Ich habe nie etwas Entscheidendes für Weiß gesehen, aber es ist klar, dass Weiß dem Gewinn sehr nahe war."
Im weiteren Partieverlauf schien Nakamura nicht genügend Zeit zu haben, um die präzisesten Züge zu finden und seinen Gegner unter Druck halten zu können. Nepomniachtchi hingegen fand hervorragende Verteidigungszüge.
Im 32. Zug war der Vorteil von Weiß verschwunden und als er eine Zugwiederholung einleitete, schüttelte Nakamura den Kopf und sah sehr enttäuscht aus.
Anmerkungen von GM Rafael Leitao.
Was die verpassten Chancen betrifft, war 23.Sh4 vielleicht etwas computerlastig, aber als Nakamura im Interview nach der Partie 25.Sd4 statt 25.Sd2 ansprach und es einen "Brain-Slip" bezeichnete, hatte er den Nagel genau auf den Kopf getroffen.
"... if I don't have the sudden brain slip and play Nd2—if I go Nd4 I think it's much better if not winning," says Nakamura on perhaps a missed opportunity against Nepomniachtchi today. #FIDECandidates pic.twitter.com/7gp6aSBCa0
— ChesscomLive (@ChesscomLive) June 22, 2022
Nakamuras vollständige Gedanken zu dieser Partie könnt Ihr Euch in diesem hervorragenden Video ansehen:
Radjabov-Ding ½-½
Auch Ding vergab heute eine große Chance, sich endlich für das verlorene Finale des Weltcups von 2019 zu revanchieren. Indirekt gesehen war ja dieses Turnier, mit dem sich Radjabov für dieses Turnier qualifiziert hatte.
In der Vergangenheit hatte Ding gegen die katalanische Eröffnung ein System mit einem frühen ...Lb4+ gespielt und damit beim Kandidatenturnier 2018 immerhin ein Remis gegen Caruana erreicht. Also hatte Radjabov am Morgen einiges zu tun, aber er konnte sich in der Eröffnung trotzdem keinen wirklichen Vorteil erspielen.
Das natürlich aussehende 11…c5 war der erste neue Zug, obwohl bis dahin nur zwei Partien bekannt waren. 12.a3 sah jetzt kritisch aus, da dieser Zug die Verbindung zwischen der schwarzen Dame und dem Läufer unterbrochen hätte, aber Radjabov wählte einen anderen Weg.
Als der Aserbaidschaner sowohl seinen e- als auch seine f-Bauern vorzog, schwächte er seinen König ein wenig und Dings 19...Db7! offenbarte das. Die schwarze Stellung sah jetzt richtig gut aus und mit Dings nächsten Manövern wuchs sein Vorteil weiter an.
Eine Ungenauigkeit von Ding blieb ungestraft, denn Radjabov fand nicht 36.Sf5, was für ein Remis reichen hätte sollen. Dann folgte jedoch eine weitere: Einen Zug vor der Zeitkontrolle wirkte Ding sehr nervös und fand nicht für den Gewinnzug 40...Lxd4.
Ding Liren had to find the only move 40...Bxd4 to keep a winning advantage.
— ChesscomLive (@ChesscomLive) June 22, 2022
Radjabov is back in the game.#FIDECandidates pic.twitter.com/RBukiny9go
Als Radjabov wieder ans Brett kam, wirkte er erleichtert, und das zu Recht. Der schwarze Vorteil war vollständig verschwunden und es war nicht mehr schwierig, die Partie Remis zu halten.
Anmerkungen von GM Rafael Leitao.
Damit kommt es morgen zwischen Ding und Nakamura zum Duell der beiden Spieler, die heute große Chancen vergeben haben. Es wird interessant sein, wie sie diese Partie nach ihren enttäuschenden Ergebnissen von heute angehen werden. Überraschenderweise spielen beide mit der gleichen Farbe wie heute und somit heißt es Nakamura gegen Ding.
Die Tabelle nach 5 von 14 Runden
Die Paarungen der sechsten Runde
Runde 6 | 23. Juni 2022 | 15:00 Uhr |
Radjabov | - | Rapport |
Firouzja | - | Caruana |
Nakamura | - | Ding |
Nepomniachtchi | - | Duda |
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