News
Nepomniachtchi hält auf wundersame Weise ein Remis
Der Handschlag vor der 8. Runde. Foto: Mike Klein/Chess.com.

Nepomniachtchi hält auf wundersame Weise ein Remis

JackRodgers
| 0 | Berichterstattung von einem Schach-Event

Ding Liren hätte in der 8. Runde der FIDE Weltmeisterschaft 2023 fast sein drittes Comeback in Folge geschafft. Am Ende scheiterte aber an der tollkühnen Verteidigung von Ian Nepomniachtchi und musste sich mit einem Remis begnügen.

In einem weiteren Eröffnungsdebüt bei dieser WM kämpften sich die Kontrahenten durch ein unausgeglichenes Mittelspiel, das aus einer Nimzo-Indischen Verteidigung entstanden war und Ding konnte aus einem Fehler von Nepomniachtchi Kapital schlagen. Der Russe entkam ihm aber auf Houdini-artige Weise.

Die neunte Partie beginnt am Freitag, dem 21. April, um 11.00 Uhr.

So könnt Ihr bei der FIDE Weltmeisterschaft 2023 zusehen:
Wir übertragen alle Partien der FIDE Weltmeisterschaft 2023 mit Kommentaren von Steve Berger und interessanten Gästen wie Jan Gustafsson und Fiona Steil-Antoni auf Chess.com/TV, Twitch und YouTube. Die englischsprachige Übertragung findet Ihr auf https://www.youtube.com/@chesscomlive
Hier seht Ihr die Aufzeichnung der Übertragung der achten Partie:
Kommentatoren: Steve Berger und Jan Gustafsson

Nach acht Runden in Astana sind die Worte des Künstlers Marcel Duchamp, "Ich bin zu dem persönlichen Schluss gekommen, dass zwar nicht alle Künstler Schachspieler, aber alle Schachspieler Künstler sind", wahrer denn je. Die Schachgemeinschaft war einmal mehr von der Risikobereitschaft der Spieler begeistert.

Der Künstler betritt die Bühne. Foto: Mike Klein/Chess.com.

Tania Sachdevs Prolog für die Partie enthielt den Satz, dass "beide Spieler bereit für einen Kampf sind" und nach jeweils drei Zügen war zumindest schon klar, dass den Spielern die Überraschungen noch nicht ausgegangen sind, denn wir bekamen die Nimzo-Indische Verteidigung zu sehen. Ding entschied sich für die Sämisch-Variante, die normalerweise durch einen Doppelbauern auf der c-Linie und ein großes weißes Zentrum gekennzeichnet ist.

Nach der Partie nannte der Weltranglisten-Zweite die Fortsetzung mit 9.Ta2 "aktuell".

Nepomniachtchis Abweichung von bekannten Meisterpartien erfolgte mit 9...b6, womit er von einer komplizierten Partie der Großmeister John M. Burke und Illiya Nyzhnyk beim Spice Cup 2022, die Weiß am Ende gewinnen konnte, abwich. Beide Spieler schienen jedoch weiterhin in ihrer Vorbereitung zu sein und Ding bot seinem Gegner drei Züge später seinen Läufer an. Dieses Opfer zielte darauf ab, die h-Linie mit einem tödlichen Angriff im Schlepptau zu öffnen.

Ian Nepomniachtchi versucht sich zu konzentrieren. Foto: Aleksandar Dimitrijevic/Chess.com.

Daraufhin meldete sich auf Twitter eine ganze Armee von Weltklasse-Spielern, darunter die Großmeister Fabiano Caruana und Levon Aronian, auf, die behaupteten, diese Variante schon einmal studiert zu haben. Caruana schrieb: "Ich kann gar nicht sagen, wie glücklich ich bin, diese Variante heute auf dem Brett zu sehen."

Nepomniachtchi schien mit der Variante ebenfalls vertraut zu sein und obwohl Anish Giri nach einem langen Nachdenken von Nepomniachtchi behauptete, er sei "aus der Theorie", stellte der niederländische Kommentator später klar, dass er glaubte, dass er wohl die Zugreihenfolge verwechselt habe. Nepomniachtchi würde dies später in der Pressekonferenz ansprechen und erklären: "Ich habe beide Züge in meinen Dateien."

Wie die meisten Partien dieser Weltmeisterschaft bisher verfiel die Stellung um die 15-Zug-Marke herum ins Chaos und als sich Ding eine potenzielle Zugwiederholung anbot, entschied er sich wenig überraschend, die Stellung mit 16.d5 weiter zu verkomplizieren.

Beide Spieler wollten gewinnen. Foto: Mike Klein/Chess.com.

Die Entscheidung zahlte sich aus und Ding seinen g-Bauern und seinen Freibauern auf der d-Linie voller Selbstvertrauen über das Brett jagte, sagte Kommentator Robert Hess, dass der Aufbau "die Konturen eines Meisterwerks" habe. Nepomniachtchi stand unter großem Druck und suchte nach Lösungen.

Ding Liren. Foto: Mike Klein/Chess.com.

Bei dem Versuch, sich aus dem Schraubstock-ähnlichen Griff von Weiß zu befreien, unterlief dem zweifachen WM-Herausforderer ein Fehler, der dem weißen d-Bauern zusätzliche Kraft verlieh. Giri bezeichnete diesen Moment als "kritisch." Als Nepomniachtchi klar wurde, dass ihn seine Entscheidung in eine verlorene Stellung gebracht hatte, zeigte er sichtbares Unbehagen. Sachdev sagte: "Man kann eine komplette Veränderung bei ihm sehen". Und die Dinge sollten noch schlimmer werden.

Trotz Dings überwältigendem Vorteil sagte Giri voraus, dass etwas schiefgehen würde: "Sein Tempo ist ein bisschen langsamer geworden. Ich fühle schlechte Schwingungen." Der Kommentator schien vorauszusehen, was bald passieren würde und als er sich bereits in einer absoluten Gewinnstellung befand, sah sich Ding plötzlich Nepomniachtchis Verzweiflungsversuch 31.Dh4 ausgesetzt. Ein Zug, der irgendwo zwischen "brillant" und "Bluff" einzuordnen ist.

Die Idee war ein perfektes Beispiel für das einfache Mantra des berühmten Schachtrainers Bruce Pandolfini: "Wenn Du am Gewinnen bist, vereinfach die Stellung - Wenn Du am Verlieren bist, verkompliziere sie". Ding fiel auch aufgrund der einsetzenden Zeitnot auf den Bluff herein. Nachdem Nepomniachtchi dann seinen Springer opfern und damit die Stellung ausgleichen konnte und Dings Zeit unter die 10-Minuten-Marke gefallen war, schlich sich ein alptraumhaftes Déjà-vu-Gefühl ein. Schließlich musste der Chinese noch 3 Züge machen, bevor er eine weitere Stunde Bedenkzeit bekommen würde.

Als Ding dann mit 4 Sekunden auf der Uhr seinen 40. Zug ausgeführt hatte, war sein Vorteil verflogen. Es folgte ein Damentausch und die Spieler einigten sich im 45. Zug auf ein Remis.

Die Partie war alles andere als zum Einschlafen. Foto: Mike Klein/Chess.com.

Großmeister Rafael Leitao hat die Partie für uns analysiert.

Diese Partie kann man mit vielen Adjektiven beschreiben: grandios, interessant, blutig, überraschend, ungenau, was auch immer. Beide Spieler wollten gewinnen und gingen, ohne Angst vor einer Niederlage zu haben, große Risiken ein. Jede Partie dieser denkwürdigen WM ist ein Drama für sich und kann stundenlang studiert werden.

Und für alle, die sich Analysen lieber als Video ansehen, war "The Big Greek" wieder fleißig:

Eine der brandaktuellen Nachrichten des Tages war das angebliche Durchsickern von zwei anonymen Lichess-Accounts, die angeblich Ding und seinem Team gehören. Der Reddit-User "LudwigDeLarge" fand eine exakte Korrelation zwischen mehreren Schnellschachpartien der Konten und den Eröffnungszügen, die in den Partien zwei und acht der WM gespielt wurden. Auf Reddit ist die Diskussion zu diesem Thema ist weiterhin in Gang.

Als er auf der Pressekonferenz dazu befragt wurde, antwortete Ding: "Ich weiß nicht, auf welche Partie Sie sich beziehen." Kurz vor der Pressekonferenz hat sich Ding spontan mit seinem Team getroffen. Als er nach dem Grund dafür gefragt wurde, erklärte Ding, dass sie nur über die Partie und nicht über das angebliche Leak gesprochen hätten.

Hikaru Nakamura war der erste Top-Spieler, der dies live kommentierte und er sagte: "Es besteht keine Chance, dass dies nicht Dings Konten sind. Überhaupt keine Chance."

Das vermeintliche Leak hat mehrere Gemeinsamkeiten mit einem Leak von Caruanas Vorbereitung auf die WM gegen Magnus Carlsen, obwohl Caruana damals das Gefühl hatte, dass es "keine enorme Menge an Informationen preisgegeben hat".

Ob die Gerüchte wahr sind oder nicht wissen wir nicht, aber eines ist sicher: Die FIDE-Weltmeisterschaft 2023 ist eines der dramtischten Duelle seit langem, sowohl auf als auch neben dem Brett. Angesichts eines Ein-Punkte-Rückstands und der morgigen Partie mit Schwarz ist Dings Vorbereitung auf diese neunte Partie absolut entscheidend. Und wenn seine Vorbereitung wirklich geleakt wurde, ist seine Aufgabe umso schwieriger.

Wird Ding in der Lage sein, diesen Druck abzuschütteln und ein erneutes Comeback zu starten, oder wird Nepomniachtchi die Schrauben anziehen und auf eine praktisch uneinholbare Führung drängen?

Bis jetzt endeten über die Hälfte der Partien mit Siegen. Stellt also sicher, dass Ihr die neunte Runde auf keinen Fall verpasst.

Der Spielstand nach 8 von maximal 14 Partien

Name Elo 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 Punkte
Ding Liren 2788 ½ 0 ½ 1 0 1 0 ½ . . . . . . 3.5
Ian Nepomniachtchi 2795 ½ 1 ½ 0 1 0 1 ½ . . . . . . 4.5

Die FIDE-Weltmeisterschaft 2023 ist das wichtigste Schach-Event des Jahres und entscheidet, wer der nächste Weltmeister wird. Ian Nepomniachtchi und Ding Liren spielen ein Match, um zu entscheiden, wer Carlsens Thron übernimmt, nachdem der aktuelle Weltmeister seinen Titel niedergelegt hat. Das Match ist mit 2 Millionen Euro dotiert und wird über 14 klassische Partien gespielt. Der erste Spieler, der 7.5 Punkte erzielt, gewinnt.


Weitere Berichte von der WM 2023:

Mehr von FM JackRodgers
Firouzjas Feuerwerk führt zum Sieg über Grischuk, So schlägt Lazavik

Firouzjas Feuerwerk führt zum Sieg über Grischuk, So schlägt Lazavik

Nepo besiegt Vidit und übernimmt alleinige Führung; Tan kommt mit Schrecken davon

Nepo besiegt Vidit und übernimmt alleinige Führung; Tan kommt mit Schrecken davon