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Nepomniachtchi kommt dem Titel mit einem Remis einen Schritt näher
Ian Nepomniachtchi. Foto: Mike Klein/Chess.com.

Nepomniachtchi kommt dem Titel mit einem Remis einen Schritt näher

JackRodgers
| 1 | Berichterstattung von einem Schach-Event

Irgendwie waren beide Kontrahenten mit dem Remis in der neunten Runde der FIDE Weltmeisterschaft 2023 zufrieden. Ian Nepomniachtchi ist der Ziellinie einen halben Punkt näher gekommen und Ding Liren hat mit Schwarz immerhin nicht verloren. 

Nach den letzten turbulenten Partien war Ding sichtlich glücklich, mit Schwarz in ein langes Springerendspiel mit Minusbauern Remis zu halten und damit alle Bedenken über seinen emotionalen Zustand zu verwerfen und mit einem Rückstand von 4:5 in Schlagdistanz zu Nepomniachtchi zu bleiben.

Die zehnte Partie beginnt am Sonntag, dem 23. April, um 11.00 Uhr.

So könnt Ihr bei der FIDE Weltmeisterschaft 2023 zusehen:
Wir übertragen alle Partien der FIDE Weltmeisterschaft 2023 mit Kommentaren von Steve Berger und interessanten Gästen wie Jan Gustafsson und Fiona Steil-Antoni auf Chess.com/TV, Twitch und YouTube. Die englischsprachige Übertragung findet Ihr auf https://www.youtube.com/@chesscomlive
Hier seht Ihr die Aufzeichnung der Übertragung der neunten Partie:
Kommentatoren: Steve Berger und Jan Gustafsson

Nach herzzerreißender Niederlagen und Gerüchten über Leaks waren alle Augen auf Ding gerichtet. Alle waren gespannt, wie er und sein Team mit dem wachsenden Druck umgehen würde, der momentan schon auf ihn lastet und der in der Endphase dieser WM immer größer werden wird.

Als sie die Bühne betraten, sah keiner der Spieler besonders nervös aus, aber aufmerksamen Zuschauern fiel auf, dass Nepomniachtchi schon die dritte Runde in Folge das gleiche Hemd trug. Obwohl er behauptet nicht abergläubisch zu sein, ist er doch zu jeder Runde nach Partie mit einem für ihn positivem Ausgang mit dem "Siegerhemd" der letzten Runde angetreten.

Fabiano Caruana, der sich heute dem Kommentatorenteam von Chess.com angeschlossen hatte, sagte voraus, dass die sogenannte Berliner Verteidigung für Ding eine gute Eröffnung sein könnte. Er wies darauf hin, dass der Weltranglistendritte eine Stellung anstreben sollte, in der er die Angriffsversuche und die immensen Rechenfähigkeiten seines Gegners weitgehend ins Leere laufen lassen kann.

Caruana gefiel Dings Wahl der Eröffnung. Foto: Mike Klein/Chess.com.

11 Züge lang folgten die beiden dann einer Partie zwischen Wesley So und Hikaru Nakamura von Finale der Chess.com Global Championship 2022, die das aktuelle 10.Sb8 beinhaltete, das auf Meisterebene zu positiven Ergebnissen für Schwarz geführt hat. Mit einer Gewinnquote von 33%, einer Remisquote von 44% und einer Verlustquote von 22% nach neun Partien ist es verständlich, dass Ding diese Variante interessant fand.

Aufgrund der symmetrischen Bauernstruktur prognostizierten viele Experten schon früh ein Remis, aber der ehemalige Weltmeister Viswanathan Anand erkärte sofort, dass solche Stellungen zwar ruhig, aber keineswegs steril sind. Etwas später Twitterte er dann: "Dings Vorbereitung sieht in der Tat sehr effektiv aus."

Die ersten Risse bekam die Stellung im 17. Zug, als Ding den leicht ungenauen Zug Kb8, statt des sichereren Zuges Lf8, der ein dynamisches Bauernopfer beinhaltete, das nach Ansicht der Kommentatoren hätte in Betracht gezogen werden sollen, spielte. Caruana erklärte, dass der 17. Zug von Schwarz "keine sehr praktische Herangehensweise" sei und "Ding seinem Gegner die einfachen Züge gibt und es sich selbst überlässt, die schwierigen Entscheidungen zu treffen".

Obwohl die Konsequenzen subtil waren, fand Nepomniachtchi die richtige Fortsetzung, indem er seinen Springer auf h5 platzierte und damit seine Dame öffnete, was bedeutete, dass Weiß plötzlich einen Angriff am Königsflügel aufbauen konnte.

Nepomniachtchis Angriffe am Königsflügel haben Ding immer wieder Ärger bereitet. Foto: Mike Klein/Chess.com.

Innerhalb weniger Züge schien es, als würde Ding in Schwierigkeiten geraten und während der Pressekonferenz bestätigte Nepomniachtchi, dass er nach 17.Tb8 und 18.Sh4 eine sehr schöne Initiative hatte. Die Nummer zwei der Welt musste dann auch nicht zweimal gebeten werden und brachte mehr Figuren in Richtung Königsflügel, wobei er Fesselungen und verschiedene andere Taktiken einsetzte, um deren sichere Reise dorthin zu gewährleisten.

Im Mittelspiel konnte Ding aber die enorme Präzision von Nepomniachtchi kontern und so entstand ein Endspiel mit Springer, Turm und 3 Bauern für Weiß und Springer, Turm und 2 Bauern für Schwarz. Das Endspiel war zwar schwierig zu halten, aber Nepomniachtchi schaffte es immer wieder, seinem Gegner Probleme zu bereiten.

Nach der Partie sagte Ding: "Ich dachte, es wäre ein einfaches Remis, aber dann wurde mir klar, dass es nicht so einfach war." Nepomniachtchi teilte dieses Gefühl und behauptete nach dem Remis: "Ich hätte ihm im Endspiel mehr Probleme bereiten sollen, aber irgendwie war es nicht so einfach, meine Bauern nach vorne zu ziehen."

Im Endspiel war Ding sichtlich nervös. Foto: Mike Klein/Chess.com.

Das Endspiel erreichte im 55. Zug einen Höhepunkt, nachdem sich Nepomniachtchi mit einem Bauernopfer eine letzte Chance erspielt hatte. Ding musste zwischen den beiden Zügen Ke7 und h3 wählen und entschied sich für den letzteren. Nach der Partie dachte er, "h3 sei der einzige Zug, um die Partie zu retten". Nach diesem "Gegenopfer" erkannten beide Spieler, dass die Partie wohl Remis enden würde.

Nepomniachtchi spielte aber getreu dem klassischen Mantra "Ein Bauer ist ein Bauer" bis zum 82. Zug weiter und damit wurde diese Partie die längste der bisherigen WM. Während sie natürlich nicht mit dem gigantischen, rekordverdächtigen 136-Züge-Epos zwischen Magnus Carlsen und Nepomniachtchi bei der WM 2021 zu vergleichen war, fühlte sich das langwierige Pressing Nepomniachtchis an wie der Versuch, seinen Gegner ermüden. Eine Taktik, die er sich vielleicht von Magnus Carlsen abgeschaut hat.

Nach 82 Zügen endete die Partie Remis. Foto: Mike Klein/Chess.com.

Großmeister Rafael Leitao hat die Partie für uns analysiert.

The Big Greek hat die Partie natürlich auch analysiert:

Während der Pressekonferenz wurde Ding gebeten, auf einer Skala von 1 bis 10 sein Selbstvertrauen zu bewerten, wenn es darum geht, die Weltmeisterschaft zu gewinnen. Mit einem leichten Lächeln antwortete der immer bescheidene Chinese "Fünf".

Während sich bei Weltmeisterschaften mit Carlsen ein Ein-Punkte-Rückstand wie ein fast unüberwindbarer Vorsprung anfühlte, bedeutet die hohe Anzahl entscheidender Partien (bisher 55%) und die gegenseitige Vorliebe für chaotische Stellungen, dass noch beide Spieler echte Chancen auf den Sieg der FIDE-Weltmeisterschaft 2023 haben.

Am Sonntag wird Ding versuchen, seine Heldentaten aus den Runden vier und sechs mit den weißen Steinen zu wiederholen. Besonders, weil Nepomniachtchi eigentlich in jeder bisherigen Schwarzpartie ins Wackeln geraten ist.

Nepomniachtchi fasste seine Strategie für die nächsten 5 Partien ganz einfach zusammen: "Ich werde mein Bestes geben und sehen, was passiert."

Sollte Nepo diese Partie am Sonntag gewinnen, wäre die Weltmeisterschaft so gut wie entschieden, aber Ding wird natürlich alles dafür tun, dass die über die volle Distanz von 14 Partien geht. Als neutrale Beobachter wünschen wir uns das natürlich auch und beenden den Bericht der 9. Runde mit einem Zitat des ersten Schachweltmeisters Wilhelm Steinitz: "Schach ist nichts für schwache Nerven!"

In einer Woche ist einer dieser beiden Spieler der neue Schachweltmeister. Foto: Mike Klein.

Der Spielstand nach 9 von maximal 14 Partien

Name Elo 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 Punkte
Ding Liren 2788 ½ 0 ½ 1 0 1 0 ½ ½ . . . . . 4
Ian Nepomniachtchi 2795 ½ 1 ½ 0 1 0 1 ½ ½ . . . . . 5

Die FIDE-Weltmeisterschaft 2023 ist das wichtigste Schach-Event des Jahres und entscheidet, wer der nächste Weltmeister wird. Ian Nepomniachtchi und Ding Liren spielen ein Match, um zu entscheiden, wer Carlsens Thron übernimmt, nachdem der aktuelle Weltmeister seinen Titel niedergelegt hat. Das Match ist mit 2 Millionen Euro dotiert und wird über 14 klassische Partien gespielt. Der erste Spieler, der 7.5 Punkte erzielt, gewinnt.


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